Cuvée valaisanne

Aktualität der Walliser Beton-Tradition

Stephanie Bender, Yves Dreier

Der komplexe Städtebau der Orientierungsschule von Mann Capua Mann in St-Maurice begegnet der monolithischen Struktur eines Bauunternehmens in Vollèges von BFN architectes.

Der Beton als Baumaterial prägt die Baukultur im Wallis vielleicht mehr als irgendwo sonst. Staudämme, Militärbunker, Tunnel, Brücken, Stützmauern, Strassen, Seil- und Autobahnen: An keinem anderen Ort legen Infrastrukturbauten so deutlich Zeugnis ab von den strukturellen und haptischen Qualitäten dieses Materials. Architekturen wie Kirchen, Schulhäuser, Unterkünfte, Hotels und Fabriken tun dies genauso. Beides veranschaulicht die 2014 vom Kanton herausgegebene Publikation Baukultur im Kanton Wallis 1920 – 1975 (siehe Buchbesprechung im Heft) – die gleichermassen Werke von Architektur und Ingenieurskunst zelebriert.

Wie kein anderes Material bezeugt und besiegelt das Baumaterial Beton die Verwandtschaft zwischen Infrastrukturen und Gebäuden. Insbesondere während der Einrichtung der grossen Infrastrukturen hat das spezifische handwerkliche Wissen der lokalen Bauunternehmer die besondere Symbiose zwischen gebauten Strukturen und ihrem Kontext geprägt. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: Kurz nach dem Taleingang ins Val d’Hérens markiert die Kirche Saint-Nicolas in Hérémence von Walter Maria Förderer Präsenz, das Talende beschliesst der von Alfred Stucky errichtete Staudamm Grande-Dixence. Beide bringen auf ganz eigene Weise das plastische Potenzial des Betons zum Ausdruck und damit auch seine Eignung als kraftvolles Symbol für die Beziehung zur Natur und für eine zukunftsgerichtete Gesellschaftsvision.

Der venezianische Architekt Mirco Ravanne steht beispielhaft für einen kulturellen Import im Zusammenhang mit lokaler Kontinuität im Betonbau. Nach dem Studium in Florenz und seiner Zusammenarbeit mit Jean Prouvé in Paris setzte er sich mit Alberto Sartoris sowie Heidi und Peter Wengers Werken im Wallis auseinander. Ende der 1960er Jahre baute er das Kapuzinerkloster Sion um und legte dabei ausserordentliche gestalterische Meisterschaft an den Tag. Ravanne löste Ausschnitte der Fassade in Ortbeton und vorfabrizierte Elemente auf und schuf in einem wohldurchdachten Proportionenspiel eine starke Beziehung zwischen den neuen und alten Gebäudeteilen rund um den Kreuzgang.

Im Lauf der Geschichte und mit der Weiterentwicklung der technischen Kenntnisse haben sich die Materialität des Betons und seine Bedeutung verändert. Die Beton-Rezepte sind vielfältiger geworden, und Experimente mit Schalung, Textur und Pigmentierung brachten eine ganze Reihe von Methoden zur mechanischen Oberflächenveredelung hervor, wie etwa Auswaschen, Sandstrahlen oder Stocken. Hinzu kam ein breites Spektrum an Schalungen, welche die Möglichkeiten eines spielerischen Umgangs mit den Fugenbildern eröffneten. Eine Option, die sich heute wieder grösserer Beliebtheit erfreut, ist die Vorfertigung, die motivische Wiederholungen erlaubt und Texturen von sehr hoher Qualität ermöglicht.

Für sich selber bauen

Am Eingang zum Val de Bagnes, gegenüber der Ortschaft Sembrancher, steht am Ufer der Dranse ein selbstbewusster Betonbau, halb Werkhof, halb repräsentativer Firmensitz der lokalen Baufirma Manenti Farquet. Das Ensemble fügt sich durch Form und Beschaffenheit des Materials bestens in den Kontext ein. Offensichtlich das Produkt einer ausgeprägten Affinität und der sich daraus ergebenden Synergien zwischen den Architektinnen von BFN, Stéphanie Fornay Farquet, Aude Bornet, Geneviève Nanchen, und dem Bauherrn, folgt der Entwurf durchaus einer gewissen Walliser Bautradition.

Das Projekt vereinigt zwei Teile, und obwohl sie das gleiche Trägermaterial verwenden, zeichnen sie sich durch einen formalen Unterschied aus. Den Firmensitz selbst bildet ein scharfkantiger und kompakter Kopfbau aus Sichtbeton mit grossen Fenstern, die den Blick auf die unmittelbare Umgebung und die Landschaft freigeben: auf Strasse und Fluss, auf Tal und Berggipfel. Seine Fortsetzung bildet ein länglicher, fast organisch wirkender Baukörper, dessen unterschiedlich hohe, L-förmige Betonstützen für eine wellenartige Bewegung sorgen. Er erscheint wie die Umfassungsmauer eines Klostergartens als Hortus conclusus angelegt für Maschinen und Werkzeuge, die beim Bauen mit Beton unerlässlich sind. Im «Garten» gedeiht die Meisterschaft des Maurers.

Monolitisches Gehäuse

Die monolithische Masse des Kopfbaus ist von grossen Öffnungen gegliedert, die Nische des Eingangs ist in das Volumen eingeschnitten, das den tektonischen Einsatz des zweischaligen Ortbetons verkörpert. Sein massiver Ausdruck und die graue Materialität sind den nahen Felswänden verwandt – eine Antwort auf Gewalt und Erhabenheit der Natur. Darin liegt die Herausforderung und die Stärke des Betons: in dieser Ambivalenz zwischen sensibler Integration in den Kontext durch Übereinstimmungen in Farbe und Textur sowie im expressiven Widerstand gegenüber der Kraft der felsigen Landschaft.

Im Innern setzt sich der rohe und monolithische Charakter des Baus fort. Eine Folge geschlossener Volumen strukturiert den fliessenden und in der Höhe abgestuften Raum, der den Einschnitt des Eingangs im Inneren fortsetzt. Die Volumen beherbergen Büros, Archive und Beratungszimmer. Sämtliche Oberflächen – Böden, Mauern und Decken – bestehen aus unverkleidetem Beton, sodass der Bauherr die Pläne praktisch im Alleingang umsetzen konnte und die Arbeiten mit der Errichtung des Rohbaus nahezu abgeschlossen waren. Ausnahmen: die aus Holz oder Glas hergestellten Elemente – Fenster, Türen, Trennwände der Sitzungszimmer – sowie einige wenige Möbel, die als ergänzende Elemente einen Kontrast zur Mineralität des Betons schaffen.

Durch die Panoramafenster erblickt man die Lager und die Umgürtung des Werkhofs mit Betonstützen und Wänden aus unbearbeitetem Tannenholz. Wie als Metapher für die tägliche Arbeit des Maurers vermischen sich Maschinen und Landschaft, treten Kopf und Körper, Unternehmensführung und Produktion in Beziehung. Das dominierende Material wurde auf zwei ganz unterschiedliche Weisen eingesetzt: am Bürohaus als «Betonmasse» mit horizontaler Brettstruktur des Typs 3 mit durchlaufendem Fugenbild und in bewusstem Spiel mit den zum Teil unregelmässigen Winkeln. Diese Bauweise herrscht innen wie aussen vor, unterstreicht das Monolithische und lässt an massive Werke denken, etwa an die Staumauer des Lac de Mauvoisin weiter oben im Tal. Im Gegensatz dazu rufen die vorgefertigten Pfeiler rund um den Maschinenpark mit ihrer sehr präzisen Geometrie das filigrane Viadukt des Ingenieurs Alexandre Sarrasin im nahen Sembrancher in Erinnerung.

Schule und Stadt

Das Kollegium in St-Maurice, errichtet durch das Lausanner Architekturbüro Mann Capua Mann, gehört in eine Reihe öffentlicher Bauten im Kanton Wallis, die zalhreich in Beton entstanden sind. Gleichzeitig schreibt es die Tradition fort, welche die Repräsentativität einer Bildungsinstitution mithilfe plastischer Qualität zum Ausdruck bringt. Als ihre Vorläufer dürfen die Primarschulen in Martigny und St-Maurice gelten; die eine wurde 1936 von Joseph Pasquier, die andere 1958 von Daniel Girardet gebaut. Beide Architekten legten grossen Wert auf die konkrete Materialisierung des Sichtbetons sowie auf die Verbindung der tragenden und der schmückenden Elemente.

Die neue Orientierungsschule strahlt einen öffentlichen Charakter aus, selbst wenn sie auf grosse Gesten verzichtet. Ihre langgezogene Silhouette, die grosszügigen Öffnungen und die verfeinerte Oberfläche ihres mineralischen Materials bezeugen dies. Der Neubau liegt an der Kreuzung zweier wichtiger Strassenzüge und verbindet aus der Mitte heraus die bestehenden Unterrichtsgebäude und Turnhallen zu einer konglomeraten Grossform. Mit grosser architektonischer und formaler Sensibilität gelang es den Architekten, aus der engen Nachbarschaft mit den heterogenen Bauten des Sportkomplexes, der Primarschule und der Pädagogischen Hochschule räumliche Qualitäten zu entwickeln. Der verschiedenartige Einsatz des Baumaterials Beton verleiht dabei jedem der Gebäude eine eigene Note. Die Form eines grossen «L» und die räumliche Durchlässigkeit im Erdgeschoss geben dem ganzen Campus sein Gesicht. Es entsteht ein zentraler Hof, der starke Bezüge zu seiner Umgebung herstellt und dazu beiträgt, ein Stück Stadt entstehen zu lassen.

Die Fülle der Beziehungen zwischen Innen- und Aussenräumen sorgt für grosse Verwendungsvielfalt. Aufgrund der Multifunktionalität und der Eignung jedes Ortes für Nutzer mit unterschiedlichen Bedürfnissen kommt ein intensiver Dialog zwischen Neubau und Städtchen zustande. So wird der Schulhof zur Piazza und die gedeckte Pausenhalle zum Festplatz, die Stufen der Zugangstreppe verwandeln sich in die Sitzreihen einer Freiluftbühne und die Aula in einen Theatersaal. Für zusätzliche Synergien und eine Durchmischung von Lehrbetrieb und ausserschulischen Aktivitäten sorgen die Mensa mit Buvette sowie die halb ins Untergeschoss versetzte Turnhalle. Was sich hier entfaltet, ist ein ganzes System hochwertiger öffentlicher Räume. Die grosszügigen Öffnungen in der Fassade lassen die befreiende Weite der Landschaft in die Schule dringen. Je nach Standort fällt der Blick auf die Dents de Morcles, die unverwechselbaren Felswände des Engpasses bei St-Maurice oder das Gebirgsmassiv der Dents du Midi.

Mineralisches Doppelspiel

Einen direkten Bezug zum Kontext schaffen auch die mineralischen Fassaden: Die anthrazit gefärbte vorfabrizierte Waschbeton-Verkleidung lässt die hellen Zuschlagsstoffe aus dem nahegelegenen Steinbruch von Bex aufleuchten. Der dunkle Farbton des Betons, die Dimensionen der vorgefertigten Elemente und die Anordnung der Fugen verleihen dem Bau seine Abstraktion.

Förmlich zum Herumspazieren lädt die erste Etage ein; sie erweist sich als Hauptebene, als Piano nobile. In den Weiten des Mittelflurs, der die Nutzungsbereiche des Erdgeschosses miteinander verbindet, setzen Holzelemente auf dem grauen Sichtbeton warme Akzente. Der Rohbau wird durch ein konsequent durchgezogenes vertikales Schalungsbild von 108 Zentimetern Höhe sowie eine minutiöse Behandlung der Abstandhalter veredelt. Sie unterstreichen das statische Prinzip des Gebäudes und die Positionierung des vorgespannten Raumtragwerks, das Spannweiten von 22 Metern über den Pausenplatz und gar 35 Metern über der Turnhalle ermöglicht. Die Treppenhäuser sind von einer einmaligen skulpturalen Qualität und bilden gleichzeitig einen Teil der Aussteifung, die in der erdbebengefährdeten Region benötigt wird.

Durch die weiten Öffnungen mit regelmässiger Rahmung fällt viel Tageslicht ein. Von innen geben sie die Sicht auf das Panorama frei, von aussen setzen sie die Aussparungen des Volumens in Szene. So erlauben sie einen Blickwechsel zwischen Klassen- und Erschliessungsräumen. Dieses Spiel mit den Perspektiven bringt die vorfabrizierten Fassadenelemente und den Ortbeton der Innenkorridore miteinander in Beziehung. Das Kollegium wird zu einer kleinen Stadt mit lebhaftem Austausch zwischen Innen und Aussen, zu einem Symbol für eine Architektur, die ohne grosse Geste auskommt, aber ein umso feineres Gespür für die visuelle und taktile Qualität des Materials an den Tag legt.

Stephanie Bender (1969) hat 2011 an der EPFL promoviert. Sie führt seit 1998 zusammen mit Philippe Beboux in Lausanne das Architekturbüro 2B Architectes.

Yves Dreier (1979) führt das Büro Dreier Frenzel Architecture + Communication in Lausanne. Er ist Korrespondent von wbw in der Romandie.

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