Höchste Eisenbahn

Rückgrat einer nachhaltigen Stadtplanung

Marc Schneiter

In Heft 1/2–2015 brachte der Architekt Dieter Dietz das Thema einer Ringbahn für Zürich auf. Die Vision einer neuen Linie in Form eines Hundekopfs um die grösste Schweizer Stadt ist ebenso interessant wie inspirierend. Nur käme die Diskussion leider zur falschen Zeit, meint der Raum- und Verkehrsplaner Marc Schneiter.
Schneiters Arbeitsschwerpunkte sind Gesamtverkehrsplanungen und Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Umbau von Agglomerationsstrukturen.

In seinem Artikel stellt Dieter Dietz fest, dass Verkehrswege urbane Territorien erheblich prägen. Er behauptet sogar, dass mit Verkehrsinfrastrukturen der Raum entscheidender geformt werde als mit sämtlichen städtebaulichen Initiativen. Ausserdem hält er fest, dass radiale Systeme das Zentrum gegenüber der Peripherie exponentiell aufwerten und im Gegensatz dazu eine Linie im Kreis letztere gleichwertig erschliesse. Recht hat er, in all diesen Punkten.
Schade nur, dass im Dezember 2015 in Zürich die Durchmesserlinie (DML) vollständig in Betrieb genommen wird. Diese Neubaustrecke erschliesst die wichtigsten Entwicklungsgebiete im Metropolitanraum, und zwar weiterhin radial und nicht tangential oder gar im Kreis. Sie ist ein vierter Schienenkorridor durch den Hauptbahnhof und, funktional betrachtet, im Prinzip eine Tangente zwischen West und Nord – durch die Mitte. Die Neubaustrecke bringt künftig zwar mehr Kapazitäten, aber keine wesentlichen Verbesserungen im Angebot. Für nicht wenige Fahrten werden die Verbindungen sogar schlechter, und dies bei Investitionen von über zwei Milliarden Franken. Damit wird, wie Dietz aufzeigt, das Zentrum zusätzlich aufgewertet. Die Chance, die Entwicklungsschwerpunkte um die Innenstadt herum mit einer Tangente zu stärken, bleibt entsprechend ungenutzt. Die Bündelung aller Schienen des Metropolitanraums Zürich im Hauptbahnhof ist für die kommenden Jahrzehnte ein Fakt, von dem die nächsten paar Generationen kaum mehr abweichen können.
Wie kam es zu diesem Ergebnis? Nach den äusserst erfolgreichen Projekten Bahn 2000 und S-Bahn Zürich wurde die Durchmesserlinie sozusagen im (politischen) Windschatten erstellt. Die ÖV-Planer hatten mit den erfolgreichen Projekten gezeigt, dass sie ihre Sache im Griff hatten. Der weitere Ausbau wurde nicht in Frage gestellt. Ein wunder Punkt in der schweizerischen Planungskultur wird sichtbar: Bahninfrastrukturen werden von Bahnspezialisten geplant, räumliche Visionen liegen diesen Arbeiten nur selten zu Grunde. Die Bahnspezialisten gehören der Gilde der Ingenieure an, und ein Austausch zwischen Ingenieuren, Architekten und Raumplanern findet offensichtlich kaum oder gar nicht statt.
In der Fahrplanfachwelt sind Klagen hörbar: In der Schweiz werde nach dem Prinzip «more of the same» geplant. Bahn 2000 und die S-Bahn Zürich waren Projekte, die dank genialer Konstruktionsprämissen1 den Verkehr im Ballungsraum revolutionierten. Die Anzahl der mit dem ÖV Reisenden hat sich in den letzten dreissig Jahren verdoppelt. Es mehren sich aber die Anzeichen, dass das weitere Schrauben am erfolgreichen System des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz an seine Grenzen stösst. So meldet der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV), dass nach Inbetriebnahme der 4. Teilergänzung der S-Bahn Zürich, die gegenwärtig mit zahlreichen Erweiterungen in der Peripherie und mit neuen Linien umgesetzt wird, ein neues Fahrplan-System der zweiten Generation nötig sein werde.
Eine gängige Vorgehensweise in der Fahrplanplanung ist der Rückblick in die vergangenen Jahre, um daraus eine Entwicklung in die Zukunft zu interpolieren. Auch die Planung der S-Bahn der zweiten Generation basiert auf dem ingenieurtechnisch nachvollziehbaren Gedankenmodell, dass eine Verdoppelung der heutigen Nachfrage bewältigt werden soll. Hier zeigt sich, dass mit räumlich gedachten Modellen wie etwa neuen Ringlinien andere und möglicherweise bessere Konzeptionen erzielt werden könnten als mit der üblichen vergangenheitsbezogenen Interpolation. Denn es ist bereits heute absehbar, dass in Zukunft nicht mehr auf den radialen Strecken die grössten Nachfragezuwächse verzeichnet werden. Auf diesen Radialen, wo der Verkehr bei den Bahnen sehr stark zugenommen hat, ist der Anteil des ÖV heute bereits mit bis zu 90% am Gesamtverkehr äusserst stark.Die Innenstädte dürften sich allerdings räumlich kaum mehr grundlegend verändern. Wandeln werden sich aber auf Grund der gesteigerten Zentralität die Nutzungen und die Preise. Die grössten Veränderungen werden in der Peripherie der Städte und in den Agglomerationen stattfinden. Die Verkehrsleistung wird in diesen Räumen heute zu rund achtzig Prozent durch den motorisierten Individualverkehr erbracht. Hier, zwischen Zürichs Westen, Norden, Osten und Süden wären also Tangenten oder Ringlinien tatsächlich gefragt. Ein räumlicher Ausgleich wäre für die Wirtschaftlichkeit des Systems wichtig. Das Zentrum-Peripherie-Gefälle ist heute schon gross, und es wird mit der bestehenden Infrastruktur weiter gestärkt. In der Peripherie sind beispielsweise doppelstöckige, lange Züge unproduktiv und ineffizient. Der Kostendeckungsgrad konnte in den letzten Jahren nicht verbessert werden, obwohl die Frequenzen deutlich zugenommen haben. Tatsächlich würde deshalb eine Ringlinie sowohl die Wirtschaftlichkeit des ÖV erhöhen als auch eine kluge, nachhaltige Stadtplanung befruchten.
Eine nachhaltige Entwicklung, wie sie in der Bundesverfassung steht, ist mit einem Umbau der Verkehrsinfrastrukturen in der Agglomeration gleichzusetzen. Das Strassennetz in den Agglomerationen hat sich über die Jahrzehnte gefüllt; die Sättigung des Netzes ist bei den Hauptstrassen bereits erreicht, auf den Hochleistungsstrassen ist diese in den nächsten Jahren zu erwarten. Überlastete Strassen in den Städten waren einer der Hauptgründe, weshalb die Bahn seit den 1980er Jahren eine Renaissance erlebte. Die Bewältigung des Verkehrs und der Umbau der Verkehrsstrukturen in den Agglomerationen sind herausfordernde Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Der Fokus der Bahnentwicklung darf sich nicht mehr auf die Städte konzentrieren, sondern muss sich auf die Agglomerationen richten.
Bei der Bahn 20001 war das Planen im Dreieck zwischen Angebot, Fahrzeugtechnik und Infrastruktur besonders wichtig: Es wurden nur jene Infrastrukturen realisiert, die nötig waren, um mit bestimmten Fahrzeugen einen im Voraus definierten Fahrplan mit Anschlüssen an den Knotenbahnhöfen zu gewährleisten. Bei der Durchmesserlinie ging dieses Verständnis verloren. Und die offiziellen Fahrplanentwürfe für das Jahr 2030 dürften kaum umgesetzt werden. Sie enthalten Schnellzüge, die im Tiefbahnhof zwölf Minuten lang Anschlüsse abwarten. Die Stadtbahnhöfe in Zürich- Altstetten, Oerlikon, Enge oder auch in Bern-Wankdorf oder Basel-Dreispitz sollen offenbar auch längerfristig nicht oder nur unsystematisch von Schnellzügen bedient werden. Der Umweg über das Zentrum wird weiterhin nötig sein. Der Vorteil der Durchmesserlinie, dass Züge nach dem Passagierwechsel sofort weiterfahren und durch eine dichte Zugfolge ein dichterer, noch attraktiverer Fahrplan produziert werden kann, ist noch nicht genutzt. Stadt und Raumplaner könnten mit Ingenieuren zusammen bessere Konzeptionen entwickeln.
Vom aktuellen Bestand ausgehend wird der Metropolitanraum Zürich wohl noch lange keine Ringbahn erhalten, mit der neuen Durchmesserlinie aber vielleicht eine zusätzliche Stammstrecke, die im Westen in verschiedene Wurzeln und im Osten in zahlreiche Äste verzweigt sein könnte. Die Anschlüsse am Hauptbahnhof würden sekundär, weil die meisten Zielorte in dichter Zugfolge erreicht werden könnten. Die Anschlüsse in den Agglomerationsbahnhöfen an Busse und weitere Regionallinien werden entscheidender. Solche oder andere Modelle müssten noch weiterentwickelt werden, wenn es gelingen soll, Fahrplanverbesserungen zu erreichen, den ÖV wirtschaftlich zu betreiben und gleichzeitig eine nachhaltige Stadtplanung zu befruchten.
Nach den deutlichen Zustimmungen zum FinöV-Fonds2 und zur FABI-Vorlage3 arbeiten SBB, Bundesamt für Verkehr (BAV) und neu auch organisierte Planungsregionen gegenwärtig intensiv an den Fahrplänen für das Jahr 2030. Die dazu nötigen neuen Infrastrukturen werden bis 2018 definiert. Diese bestimmen dann mindestens ein halbes Jahrhundert lang die weitere räumliche Entwicklung. Es ist also höchste Eisenbahn, dass Architekten und Planer sich in die Infrastrukturplanung einmischen. Weitere ungenügend durchdachte Konzeptionen sollten wir uns nicht mehr leisten.

1 Bahn 2000 liegt u.a. der Taktfahrplan mit systematischen Anschlüssen an den grossen Knotenbahnhöfen zugrunde; mit der S- Bahn wurden der systematische Halbstundentakt, einheitliche Züge, ein Tarifverbund und durch das Zentrum durchgebundene Linien («Durchmesserlinien ») eingeführt.


2 FinöV: Am 29. November 1998 von Volk und Ständen angenommener Bundesbeschluss über Bau und Finanzierung von Infrastrukturvorhaben des öffentlichen Verkehrs.


3 FABI: Bundesgesetz vom 21. Juni 2013 über Finanzierung und Ausbau der Bahn-Infrastruktur.

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