Reiches Umfeld

Reise zu Interieurs von Adolf Loos in Pilsen

Verena Huber, Petr Jehlik (Bilder)

Als Hauptakt der Feiern zur Europäischen Kulturhauptstadt hat Pilsen im vorigen Jahr die Türen von vier besonderen Wohnungen geöffnet. Eingerichtet von Adolf Loos, bieten sie den Zugang zu stofflicher Opulenz für einmal nicht über theoretische Schriften oder die Wiener Ikonen, sondern über Geschichte und Geschichten.

Die Projekte von Adolf Loos (1870 – 1933) in Pilsen sind der Innenarchitektur zuzuordnen. Seine Bauherren, zumeist jüdische Geschäftsleute und Mitglieder der Intelligenz, begeisterten sich früh für seine radikale Moderne, die Nützlichkeit mit Schönheit verbindet. Einmal erfolgreich im Geschäft, wiederholte Loos die Elemente der Innenraumgestaltung, wie das seine Bauherren von ihm erwarteten. Getreu seinem Prinzip einer Gestaltung ohne Ornamente spielte er mit der Ausdruckskraft von Hölzern und Steinen. Er bevorzugte stark maserierte und farbintensive Hölzer. Bei den Steinbelägen hatte er ein Faible für den grünlichen Cipollino aus Saillon im Wallis. Mit den klaren Raumbeziehungen mit perspektivischer Ausrichtung, oft mit Spiegeln wirkungsvoll verstärkt, kam er dem Wunsch nach Repräsentation entgegen. Seine Einfühlung in die Bedürfnisse der Bewohner kommt am überzeugendsten in den raffinierten Einbauten zum Ausdruck. Wandschränke, Regale und Ausklapptische sind liebevoll detailliert und perfekt ausgeführt.
An den Interieurs und an Loos’ Biografie lässt sich mitteleuropäische Kulturgeschichte verfolgen. Sie war stets geprägt vom Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen und von dramatischen Brüchen. Die Bewohnerfamilien mussten nach der deutschen Besetzung 1938 fliehen, als das Protektorat Böhmen und Mähren die Judenverfolgung einleitete und die luxuriösen Loos-Wohnungen beschlagnahmt wurden, oder sie kamen im Konzentrationslager um. Zwar befreiten die Amerikaner Westböhmen, überliessen dann aber die Macht den Sowjets. Auch die kommunistische Regierung missachtete den privaten Luxus.
Trotzdem sind von den dreizehn von Loos und seinen Mitarbeitern ausgebauten Wohnungen acht bis heute erhalten. Drei von vier seit 2015 zugänglichen Interieurs – Kraus, Vogel und Brummel – liegen in einem Umkreis von 500 Metern in der Blockrandbebauung der südlichen Vorstadt vom Ende des 19. Jahrhunderts. Die Wohnung Semler befindet sich etwas weiter südlich. Diese bevorzugte Wohnlage der Auftraggeber wird durch die Klatovská erschlossen, an der das Stadttheater und die grosse Synagoge liegen. Dieser einstige Prachtsboulevard tangiert im Westen die Altstadt, typisch mit grossem Marktplatz im Zentrum, heute Platz der Republik.
So viel man über den Architekten Loos weiss, so wenig kennt man die Geschichte der Auftraggeber. Sie hatten an der erfolgreichen Entwicklung der westböhmischen Hauptstadt Anteil und standen den neuen Ideen des repräsentativen Wohnens offen gegenüber. Als Bauherren von Loos waren sie nicht nur geschäftlich, sondern auch familiär miteinander verbunden. Der Architekt profitierte von Empfehlungen und vom Umstand, dass man in diesem Kreis öfters umzog und gewöhnlich die Einrichtung mit zügelte. Das erforderte Um- und Neugestaltungen – immer wieder gerne mit Adolf Loos.

Wohnung Hirsch

Bereits 1907 war Loos auf Einladung der Familie Hirsch in Pilsen, die er in Wien kennengelernt hatte. Im ersten Obergeschoss eines Mietshauses in einer Seitenstrasse der Klatovská (Plachého 6) richtete er für Wilhelm und Marta Hirsch eine luxuriöse Wohnung ein. Und Loos kam zum gleichen Tatort ein zweites Mal: 1927 – 30 gestaltete er für den jungen Richard Hirsch eine Junggesellenwohnung über der Wohnung der Eltern. Da von der Einrichtung wenig erhalten, das Haus aber im Besitz der Stadt ist, konnten 2014 Innenarchitektur-Studenten der Hochschule für Technik Stuttgart dort praktische Raumstudien machen und Möbel als Modelle 1:1 nachempfinden.1

Wohnungen Semler

Zu Loos’ treuesten Bauherren gehörte seit 1930 die Familie Semler, Fabrikanten von Drahtobjekten. Oskar Semler plante nach einer Skizze von Adolf Loos eine Wohnung nach dem Prinzip «Raumplan», die nie realisiert wurde. Doch 1932 gestaltete Loos Semlers Wohnung an der Klatovská 110. Dort ist ein Ausstellungsraum und Forschungszentrum für Architektur der westböhmischen Galerie geplant und bereits heute öffentlich zugänglich. Oskar Semlers Bruder Hugo bewohnte die ehemaligen repräsentativen Büroräume (Klatovská 19, gegenüber der Wohnung Vogel) und liess sie durch Loos umgestalten. In diesen Räumen wurde 1945 die Kapitulationserklärung der deutschen Besatzung besiegelt, mit dem Selbstmord des Kommandanten von Pilsen Georg von Majewski. Die Zukunft dieser luxuriös ausgebauten Räume ist noch nicht gesichert.

Wohnungen Beck und Vogel

Mit Pilsen verbunden ist auch die Familie Müller, für die 1927 Loos zusammen mit Karel Lhota die bekannte Villa in Prag errichtet hat, die heute als Architekturdenkmal museal betreut wird. Die Bauunternehmung Müller & Kapsa erstellte zwei Häuser mit damals modernster Haustechnik am Friedensplatz (náměstí Míru) am südlichen Stadtrand Pilsens. Nach dem Tod von Antonín Müller wurde der Hauptsitz der Firma nach Prag verlegt. Die Familie Beck mietete die Pilsener Wohnung und zügelte ihre Einrichtung von der Klatovská 12 hierhin. Loos hatte diese 1907 – 10 gestaltet und passte sie wiederum an die neuen Verhältnisse an. Claire Beck, Tochter von Olga und Otto Beck, war erfolgreiche Fotografin in Wien und wurde 1929 die dritte Frau des um 35 Jahre älteren Loos. Das Haus der Familie Müller in Pilsen wurde nach dem Krieg verstaatlicht und wird bis heute für Institutionen der Gesundheitspflege genutzt. Die Einrichtung wurde teilweise im Krieg verkauft. Ihre Spuren haben sich verloren.
Nach dem Auszug der Becks 1928 mietete die Familie Vogel die Räume an der Klatovská 12. Štěpánka Vogel war die Tochter des Hausbesitzers, ihr Mann Josef war Kinderarzt. Sie beauftragten Loos mit der Gestaltung der Wohn- und Praxisräume im zweiten Obergeschoss. Er modifizierte den Grundriss für die neue Nutzung und ergänzte den grosszügigen Wohnraum mit einem Esszimmer. Während die Einbauten die wechselvolle Geschichte überlebten, blieb das Mobiliar nicht erhalten. Nach Fotos handwerklich gefertigte Replika ersetzen sie nun, sodass der Besucher heute einen Eindruck der Original-Wohnung aus den späten 1920er Jahren erhält. Das Haus ist im Eigentum der Stadt.

Haus Brummel

1927 erhielt Loos den Auftrag für die Renovation des sogenannten Brummel-Hauses. Das Haus in unmittelbarer Umgebung der Škoda-Stahlwerke hatte ursprünglich einen grossen Garten und eine historistische Fassade. Heute geht der Ausblick auf die Fabrik und den Bus-Bahnhof. Loos baute in Arbeitsgemeinschaft mit Karel Lhota über die vorhandenen Garagen zwei Wohngeschosse. Dabei wurde die Fassade des ursprünglichen Hauses stilistisch dem Neubau angepasst. Jan und Jana Brummel-Liebsteinová waren Hausbesitzer und Bewohner, Janas Mutter Hedvika Liebsteinová hatte lebenslanges Wohnrecht. Eine symmetrische Achse verbindet die beiden Wohnbereiche. Gestalterisch unterscheiden sie sich in Material und Farbe. Den vorgesehenen Cipollino-Marmor haben sie allerdings der Familie Müller für die Villa in Prag überlassen, die gleichzeitig gebaut wurde. Besonders grosszügig ist der Treppenaufgang konzipiert. Das Haus ist noch immer im Eigentum der Familie, die Haus und Einrichtung sorgfältig restauriert und durch originale Loos-Möbel ergänzt hat.

Die Wohnung Kraus

In einem Eckhaus zur Klatovská (Bendova 10) befand sich das Heim der Familie Kraus. Die Erneuerung der Wohnung im ersten Obergeschoss erkennt man von aussen nur an den dreiflügligen, grün gestrichenen Fenstern und einem Erker, und auch hier realisierte Loos einen grosszügigen Grundriss. Und ebenso findet man Verkleidungen aus Cipollino-Marmor in Kombination mit Kassetten-Decken aus Mahagoniholz. Spiegel vergrössern den Raum. Die dunklen Materialien in den Gemeinschaftsbereichen setzen sich von den hellen Birken-Verkleidungen im Schlafraum ab. Bei der Renovation wurden die Spuren verschiedener Erneuerungsschritte konserviert und durch zeitgemässes Mobiliar ergänzt.

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Pilsen war zu allen Zeiten eine Reise wert, nicht zuletzt seiner Bierbrauerei wegen. Doch die Identität der Stadt wird in der neueren Geschichte unterschiedlich wahrgenommen. Dem Reiseführer von 1967 sind neben der Brauerei nur der Marktplatz und einige Kirchen der Rede wert. In einem Schweizer Zeitungsbericht von 1991 fällt das Urteil nach der Samtenen Revolution von 1989 radikal aus: «Pilsen ist hässlich, nur das Bier kann versöhnen.» Heute weist man gerne in der Geschichte bis in die Zeit der Gotik zurück, und man entdeckt den Designer Ladislav Sutnar (1897 – 1976) und den Illustrator Jiří Trnka (1912 – 69). Im Rahmen der Aktivitäten zur Europäischen Kulturhauptstadt 2015 wurde auch die Zwischenkriegszeit aufgearbeitet.

Verena Huber (1938) ist Innenarchitektin VSI / SWB. Bis 2001 führte sie ein eigenes Büro in Zürich, unterrichtete an der ZHAW in Winterthur. Sie ist Verfasserin zahlreicher Artikel zu Fragen von Design, Innenarchitektur und dem Wohnen, unter anderem als Redaktionsmitglied dieser Zeitschrift von 1973 – 75.

1 Nach vier Workshops unter der Leitung von Wolfgang Grillitsch und einer Ausstellung in der Dachwohnung fokussiert eine Masterarbeit von Theresia Hug nun auf das Thema «Adolf Loos, Vordenker & Vorreiter! Vorbild für Innenarchitekten?».

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