Klarheit durch Täuschung

Aufstockung eines Gründerzeithauses in Zürich von Frei + Saarinen Architekten

Eva Stricker, Hannes Henz (Bilder)

Eine widersprüchliche baurechtliche Situation nutzten die Architekten für ein ambivalentes Spiel mit der Wahrnehmung. Die Aufstockung erscheint vordergründig als grosses Dach; bei genauerer Betrachtung wird sie zum Haus auf dem Haus.

Die städtebauliche Strategie der inneren Verdichtung lässt ein Eckhaus im Zürcher Kreis 4 in die Höhe wachsen. Das einst viergeschossige Wohnhaus steht in der fünfgeschossigen Quartiererhaltungszone und durfte aufgestockt werden – eine Aufgabe, der sich Frei + Saarinen Architekten im Sommer und Herbst 2016 stellten. Die Kopfposition am Anny-Klawa-Platz bezeichnet eine kaum wahrnehmbare städtebauliche Bruchstelle: Hier trifft ein viergeschossiger Blockrand der vorletzten Jahrhundertwende auf höhere Bauten derselben und neuerer Zeit. Dies macht einen gewissen Nachholbedarf in Sachen Gebäudehöhe verständlich – auch ohne Seitenblick auf die Hochhausscheibe des Locherguts schräg gegenüber. Ein Haus vis-à-vis wurde kürzlich aufgestockt. Es illustriert dabei anschaulich die konventionelle «Maximallösung» laut geltendem Recht: Der Zonenordnung entsprechend hat es jetzt ein neues Vollgeschoss mehr, das klar dem Mittelteil des Hauses zugeordnet ist. Darüber erheben sich zwei Dachgeschosse, von denen das erste oberhalb der Traufkante Lukarnen, das zweite nur Dachflächenfenster hat. Eine solche Standardlösung für das Eckhaus stünde aber mit der konkreten städtebaulichen Situation in Konflikt: Es stösst zwar an den Platz und an einer Seite an ein höheres Gebäude; zugleich bildet es aber den Abschluss einer durchgehend viergeschossigen Häuserzeile in der Agnesstrasse, die sich auch hinsichtlich Materialität und Detaillierung als gestalterische Einheit präsentiert.

Unterwanderung

In dieser verzwickten Lage nimmt der neue Aufbau eine klare Haltung ein: Das gemäss Regelbauweise mögliche Voll- sowie ein neues Dachgeschoss sind einheitlich in fein gespenglertes Kupferblech gehüllt; die beiden Geschosse thronen als Einheit auf der bestehenden Traufe – ein imposantes neues Doppeldach auf einem alten Haus, so scheint es. Die baurechtlich geforderte klare Unterscheidung zwischen Voll- und Dachgeschoss wurde von den Architekten unterwandert; subtile Massnahmen machten es bewilligungsfähig. Ein schmales Gesims führt eine neue horizontale Linie ein, die im Sinn des Baurechts als neue Traufkante gilt. Sie setzt so tief wie möglich an, direkt am Sturz der unteren Fensterreihe. Deren Brüstungen wiederum verschwinden fast hinter dem ausladenden, bestehenden Kranzgesims. Durch diesen Kunstgriff werden die Proportionen der an sich gleich hohen Geschosse in der Aussenansicht verzerrt. Das neue Vollgeschoss mit dem regelmässigen Wechsel scheinbar geschosshoher Öffnungen und geschlossener Felder wirkt wesentlich niedriger als es eigentlich ist. Darüber reckt sich das neue, plastisch gegliederte Dachgeschoss umso entschiedener in die Höhe. Die schmalen, senkrecht geteilten französischen Gaubenfenster mit ihren schlanken Flanken und scharf geschnittenen Konturen verleihen dem Drang nach oben Nachdruck.

Schutz und Weite

Es scheint, als wolle der Aufbau den Bestand in seiner althergebrachten Logik möglichst harmonisch ergänzen, von aussen betrachtet spricht viel dafür: Der weitergeführte historische Dachrand, das unter Verschleierung der Geschossigkeit als Einheit proportionierte Dach, die stehenden Gauben, die die Fensterachsen fast schon überzeichnen. Betritt man jedoch die drei neuen, in Holzelementbauweise erstellten Maisonettewohnungen, spürt man ein Eigenleben, das sich von der Struktur der gründerzeitlichen Geschosswohnung löst. Das gemeinsame Treppenhaus endet im 4. Obergeschos, nur der Lift führt bis in das neue Dachgeschoss mit den Wohn- und Essräumen. Wo möglich, windet sich der Wohn- und Essbereich um ein zuschaltbares Zimmer und stösst an mindestens zwei Fassaden. So entstehen diagonale Sichtbezüge, die den recht knapp dimensionierten Wohnungen eine gewisse Grosszügigkeit verleihen. Die schmalen französischen Gaubenfenster erlauben den Blick hinunter auf die Strasse; das ist für Dachfenster ungewöhnlich, und die überraschend weite Aussicht macht zudem die Höhenlage spürbar. Halb in die Wand, halb in die Dachschräge eingeschnitten, sind die Fenster von geschwungenen Laibungen eingefasst. Deren Formensprache wiederholt sich in den plastisch ausgebildeten Treppenbrüstungen und verleiht den Wohnräumen der schlicht materialisierten Wohnungen einen Hauch Extravaganz. Zum Schlafen taucht man hinab in das 4. Obergeschoss. Dort unterstützen breite, zweiflügelige Fenster mit knappem Sturz und schützender Brüstung ein Raumgefühl, das dem gründerzeitlichen Regelgeschoss wieder mehr entspricht. Die Struktur der Wohnungen suggeriert Wohnen im Einfamilienhaus, nur umgestülpt, gewissermassen.
Dies im Hinterkopf, scheint auch die Gliederung des neuen Dachs nicht mehr so eindeutig wie eingangs beschrieben. So haben die Architekten nebst der baurechtlich notwendigen neuen Traufe auch den Dachknick mit einer feinen Leiste akzentuiert; sie sorgt als zweite horizontale Linie mit den Oberkanten der Fensterbrüstungen für eine Dreiteilung des Dachkörpers. Dieser Eindruck wird unterstützt durch enger gesetzte Blechfalze in den Flächen zwischen Dachknick und neuem Traufgesims. Ist es am Ende doch ein ganzes – wenn auch gestauchtes – neues Haus, das der Altbau schultern muss, komplett mit Sockel, Mittelteil und Dach?

Ambivalenz als Prinzip

Die Lust am Doppeldeutigen scheint bei den Architekten durchaus Prinzip zu haben, denkt man an Martin Saarinens beherztes Plädoyer für den unverkrampften Umgang mit Manierismen, das 2011 in werk, bauen + wohnen erschienen ist.1 Erstes Indiz ist das manipulative Spiel mit Proportionen, das aus zwei gleich hohen Geschossen ein überhohes Dach zu formen sucht. Im gleichen Sinn lässt sich die diszipliniert dem Rhythmus des Altbaus folgende Strassenfassade lesen, hinter deren Schleier im Innenleben Freiheiten möglich werden, die wiederum in der Hoffassade einen überraschenden Ausdruck finden. Das klassische Gestaltungsmotiv der Gaube verselbstständigt sich dabei ziemlich nonchalant: Zwei Exemplare rücken in der Innenecke derart nah zusammen, dass ihre Laibungen als geknickte Nische den dahinterliegenden Wohnraum erweitern. Vielleicht liegt es auch in der Natur der Aufgabe, dass sich hier diverse Manierismen wittern lassen. Lädt die Aufstockung eines klassisch gegliederten Gründerzeithauses nicht geradezu ein zum Interpretieren, Kommentieren, Weiterfabulieren? Oder haben die Architekten einfach «nur» einen adäquaten Ausdruck gesucht für den Widerspruch zwischen baurechtlicher und städtebaulicher Situation?

Eva Stricker (1980) hat in Berlin und Zürich Architektur studiert. Sie lebt in Zürich und arbeitet als Architektin.

1 Martin Saarinen, Disegno fantastico. Manieristische Phänomene in der zeitgenössischen Architektur, wbw 4 – 2011, S. 12 – 19.

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