Shinohara und die Analogen

«Le mystère des voix Japonaises» – mit der Anleihe bei einem Longseller der Ethno-Musik könnte man die Faszination umschreiben, die der japanische Architekt Kazuo Shinohara vor ungefähr 30 Jahren ausgelöst hat: betörend und fremd sind seine Raumschöpfungen, eine Entdeckung. Wie dem Waadtländer Musiker Marcel Cellier in Bulgarien muss es also einigen Zürcher Architekturstudenten am Lehrstuhl von Fabio Reinhart und Miroslav Šik ergangen sein, als sie beim Blättern in japanischen Zeitschriften auf die Bauten Shinoharas stiessen. Obwohl der Japaner ein «Moderner» war, mit Beton baute und abstrakt wirkende Räume entwarf, ging er durch als analoge Referenz, dank steiler Dachräume und sichtbarer Struktur. Es war Christian Kerez’ Diplomentwurf für ein Krematorium in Zürich, der Shinohara in Zürich sozusagen offiziell einführte: Zwei Beton-Kapellen in einer Waldlichtung, Kopien von Shinoharas House in Ashitaka, verschieden gross, roh im Ausdruck, innen eine magische Stimmung. Das Bild prägte sich so ein, dass sich Studenten Shinoharas Monographie zu Weihnachten schenken liessen, ein grosses, schweres Buch, selber ein Mysterium wie Shinoharas Architektur. Auch wenn dessen Bauten in den Kanon der Analogen Eingang fanden, so hatte das Buch am Lehrstuhl etwas «Verbotenes», wohl wegen dem unleugbaren Avantgarde-künstlerischen Anspruch, den es auf jeder Seite geltend machte.

Es ist eine Ironie, dass Shinohara gerade über die Analogen in der Schweiz bekannt wurde. Aber einige von Šiks Schülern fanden in den Projekten des Japaners jenes Philosophische, das Architektur jenseits des Bildes zum Sprechen bringt – oder sie ahnten es zumal: Die Räume sind konzeptionell streng, mathematisch komponiert, und die Struktur ist rational wie expressiv begründet. Analoge Abkömmlinge wie Andrea Deplazes, Alberto Dell’Antonio, Francesco Buzzi, Valerio Olgiati oder eben Christian Kerez sahen darin jenes Potenzial, um entweder die šiksche Lehre weiterzuentwickeln oder um sich von ihr zu distanzieren. Sie waren auch diejenigen, die über ihren Unterricht an der ETH Zürich, in Mendrisio oder an der ZHAW die Faszination an Shinohara eine Generation weiter trugen. Junge Architekturschaffende wie Raphael Zuber, Angela Deuber, Pascal Flammer oder Christian Scheidegger und Jürg Keller (im Bild deren Haus mit zwei Stützen am Sarnersee, 2013) bringen die mysteriöse Stimme des Japaners in der Schweiz ein weiteres Mal zum Klingen.

— Tibor Joanelly
© Tibor Joanelly
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