Berner Städtebau ins Ungewisse

Bern ist derzeit eine Stadt mit vielen Grossbaustellen. Beim Gaswerk hat sich das Stadtparlament nun gegen Stockwerkeigentum und für vergünstigtes Wohnen sowie ein neues Jugend- und Kulturzentrum Gaskessel im künftigen Quartier am Aareufer entschieden. Die «Zukunft Bahnhof Bern» ist unlängst einen Schritt näher gerückt mit der Entscheidung für den Vorschlag von Büro B Architekten im Wettbewerb für das neue Bubenbergzentrum. Am meisten zu reden gab in der Bundesstadt jüngst aber die Planung rund um Viererfeld und Mittelfeld im Berner Norden, wo in naher Zukunft ein neues Stadtquartier für 3000 Menschen entstehen soll.
Nachdem sich Stadtplaner Mark Werren Ende 2017 im «Bund» zum städtebaulichen Planungswettbewerb für das Viererfeld geäussert hatte, reagierten 50 Architekten und Ingenieure mit einem offenen Brief an Stadtpräsident Alec von Graffenried. Sie kritisierten darin die Durchführung eines selektiven Verfahrens mit Präqualifikation statt eines offenen Wettbewerbs als «grundfalsch». Und dass die Teams nebst dem Städtebau und der Parkanlage auch einen Vorschlag für die Architektur von Wohneinheiten einreichen sollen. Das Teilnehmerfeld sowie die Vielfalt der Vorschläge würden so eingeschränkt und städtebauliche Fragen in den Hintergrund gedrängt, sagte Patrick Thurston, Vorsitzender des BSA Bern. Die Antwort des Stadtpräsidenten in Kurzform: Es sei zu spät, um den Wettbewerb nochmals neu zu lancieren. Bern leide unter zu langen Verfahren, und man wolle nicht erst in zehn Jahren auf dem Viererfeld mit Bauen beginnen. Am 17. Januar 2018 veröffentlichte die Stadt das Wettbewerbsprogramm.

Was könnte eine Aarebrücke leisten?

Drei Tage zuvor hatte der Berner Architekt Arpad Boa die Kontroverse um das künftige Stadtquartier um eine neue Fragestellung erweitert: Im «Bund» publizierte er den Vorschlag, anstatt des von der grünen Gemeinderätin Ursula Wyss propagierten Velostegs, der vom Viererfeld aus das Quartier Länggasse mit dem Breitenrein verbinden soll, an gleicher Stelle eine «richtige» Brücke zu bauen. Diese könnte nicht nur zwei beliebte Wohnviertel verbinden, sondern auch den Strassenring durch Berns Aussenquartiere schliessen, und eine neue ÖV-Verbindung ermöglichen, welche den Knoten am Bahnhofplatz entlasten würde. Die Idee erhielt von Fachleuten wie aus der Politik viel positives Echo.
Auch Stadtpräsident von Graffenried liess verlauten, er finde den Vorschlag interessant und sei gespannt, ob und wie er im Wettbewerb zum Viererfeld aufgenommen werde. In der Arealstrategie der Stadt kommt aber keine Brücke vor. Im Wettbewerbsprogramm findet nur die Velobrücke Erwähnung, mit dem Hinweis, dass ein Entscheid darüber noch aussteht. Und das Mobilitätskonzept und Erschliessungsregime für das neue Quartier ist mit der Anbindung an eine Verkehrsader von stadtweiter Bedeutung für den öffentlichen und privaten Verkehr nicht vereinbar. Kein Team, das diesen Wettbewerb gewinnen will, wird also Boas Idee aufgreifen. Dass sie jedenfalls politisch einiges Potenzial hat, machte die Reaktion von Ursula Wyss deutlich, die öffentlich darüber nachdachte, die Velobrücke eventuell doch auch für «Kleinbusse» befahrbar zu machen.
So treibt Bern die Planung seines neuen Quartiers voran, während eine für dessen künftige Lage im Stadtgefüge und seine räumlichen Hierarchien zentrale Frage vollkommen offen ist: Bleibt das Viererfeld am Stadtrand? Oder wird genau dort dereinst der Brückenkopf einer neuen Verbindung über die Aare liegen? Und wird diese nur Velofahrern und Fussgängern dienen oder auch dem öffentlichen und vielleicht gar dem motorisierten Privatverkehr? Für eine ergebnisoffene Diskussion über die neue Brücke und ihre verkehrstechnischen und städtebaulichen Implikationen ist es aber womöglich zu spät. Denn diese könnte das Ergebnis des grössten Berner Städtebau-Wettbewerbs seit Jahren zur Makulatur machen und die Stadt Bern beim Viererfeld zurück auf Feld eins werfen.

— Benjamin Muschg
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