Erschreckend aktuelle Themen

Anfang der 1950er Jahre beschwerte sich die Architektin Wera Meyer-Waldeck (1906 – 64) öffentlich darüber, dass Frauen bei den einflussreichen Darmstädter Gesprächen als Rednerinnen vollkommen unterrepräsentiert waren: Unter 45 geladenen Vortragenden war nur eine Frau vorgesehen. Diese Geschlechterverteilung, die Meyer-Waldeck als offenkundige «Frauenfeindschaft» anprangerte, widerspiegelt auch fast siebzig Jahre später immer noch den Status quo an vielen Fachtagungen, Diskussionsrunden, Schlusskritiken und Berufungsverfahren renommierter Schweizer Architekturschulen. Dies zeigt, wie erschreckend aktuell viele Themen des soeben erschienenen Sammelbands sind.

Die beiden engagierten und versierten Forscherinnen Katia Frey und Eliana Perotti haben mit dem nun zweiten Band über Theoretikerinnen des Städtebaus abermals ein weites Spektrum an Autorinnen und Autoren versammelt, um weibliche Positionen zu Architektur und Städtebau vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart sichtbar und rezipierbar zu machen (vgl. die Rezension von Band 1 in wbw 1/2 – 2016). Von den frühen Pionierinnen wie Adelheid Poninska (1804 – 1881) und Maria Pasolini (1856 – 1938) ausgehend, die sich als gebildete adelige Damen mit der Wohnungsfrage als Angelpunkt städtebaulicher Theorie oder mit Denkmalpflege und Gartenkunst auseinandersetzten, spannen Frey und Perotti einen Bogen bis zur mutigen Stadt- und Raumplanerin Wenyuan Wu (geboren 1966), die flexible, dem Ort Rechenschaft tragende Planungen innerhalb der rigiden chinesischen Bauwirtschaft etabliert.

Mit Helena Syrkus (1900 – 1982) tritt eine Chronistin des CIAM zutage, deren Schriften das massgeblich von Sigfried Giedion geprägte Bild des wichtigsten Architektenkongresses des 20. Jahrhunderts in Teilen revidieren und um neue Perspektiven bereichern. In ähnlicher Weise avancierte Sibyl Moholy-Nagy (1903 – 1971) mit Matrix of Man zur Architekturhistorikerin ihrer eigenen Zeit. Die Bauhausabsolventin Meyer-Waldeck rückte die Lebenswelt der Frau in den Nachkriegsjahren und die Wohnung als einen Geschlechterrollen definierenden Ort in das Zentrum ihres unermüdlichen Schaffens. Hier knüpfte Myra Warhaftigs (1930 – 2008) feministische Architekturtheorie und -praxis der 1980er Jahre direkt an. In der Tradition von Meyer-Waldeck stellte sie die Beschaffenheit sämtlicher Wohnräume in Frage. Und sie verschaffte durch ihren vehementen Protest und einen gemäss Buch «hocheffektiven Guerillakrieg» gegen den Ausschluss von Frauen aus den IBA-Planungen in Berlin Christina Jachmann, Zaha Hadid und sich selbst die Möglichkeit, nebeneinanderliegende Grundstücke zu bebauen. Ihre «Wohn-Raum-Küche» ist dank Minimierung der Korridorfläche mittlerweile Usus im Schweizer Siedlungsbau geworden.

Allen vorgestellten Architektinnen und Planerinnen ist gemein, dass sie die Lebenswelt des Menschen von der Inneneinrichtung bis in den Städtebau und die Raumplanung dachten und entwarfen – so auch Vittoria Calzolari (1924 – 2017), die in Italien die Landschafts- und Umweltplanung einführte, oder die weltberühmte Städtebautheoretikerin Françoise Choay (geboren 1925), deren breites, disziplinformendes OEuvre die digitale Revolution, den Klimawandel und die Folgen der Globalisierung hinsichtlich Stadt und Architektur einbindet.

Neun einführende Essays situieren das Thema in der Geschichte der Architektur und des Städtebaus; auf sie folgt eine breite Auswahl von Texten der vorgestellten Frauen in der jeweiligen Originalsprache. Die Aktualität der Texte ist oftmals bestechend und lässt Lesende mit der wütenden Frage zurück, wie es sich eine Gesellschaft und die Disziplinen Architektur und Städtebau überhaupt leisten können, auf die Ideen und Kompetenzen der Hälfte ihrer Mitglieder zu verzichten – beziehungsweise sie kaum zu rezipieren. Der unermüdliche Kampf um Gehör der Protagonistinnen dieses exzellenten Bandes, seiner Autorinnen, Autoren und Herausgeberinnen in einer nach wie vor männlich dominierten und besetzten akademischen Welt und beruflichen Praxis, ist leider nach wie vor mehr als unabdingbar.

— Britta Hentschel

Frauen blicken auf die Stadt – Architektinnen, Planerinnen, Reformerinnen. Theoretikerinnen des Städtebaus II
Katia Frey, Eliana Perotti (Hg.)
Dietrich Reimer-Verlag, Berlin 2019
360 Seiten, 45 s/w-Abbildungen
17 × 24 cm, Broschur
CHF 66.— / EUR 49.— (D)
ISBN 978-3-496-01567-3

Hinweis:
Auf der Plattform sheknows.ch versammelt alliance F Expertinnen aller Disziplinen. Das Verzeichnis soll es Medienschaffenden und Veranstalterinnen möglich machen, Expertinnen für ihre Medienanfragen, Podien und Panels zu finden.

Helena Syrkus am 4. CIAM Kongress 1933 mit Sigfried Giedion (links) und Le Corbusier (rechts).
© Elektrosmog
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