Las Vegas liegt im Tessin

Der Architekturpresse war es bis jetzt keine Meldung wert, und vielleicht liegt dies ja an der «abgeschiedenen» Lage von Mendrisio: Bereits Ende März hat die Università della Svizzera Italiana der Architektin Denise Scott Brown die Ehrendoktorwürde verliehen. Mit USI gemeint ist natürlich: die Accademia di Architettura. Und diese wird heuer 25 Jahre alt. «Mendrisio» war nie abseits des Geschehens. Die 1996 von Mario Botta (und anderen) gegründete Schule war von Anfang an am Puls des Diskurses. So war das Curriculum von Beginn weg mit international bekannten Persönlichkeiten besetzt; Kurt Forster, Werner Oechslin, Francesco dal Co oder Kenneth Frampton trugen alle den Anfang mit – ebenso wie früh schon die Architekten Peter Zumthor, Ignasi de Solà-Morales, Elia Zenghelis oder Esteban Bonell. Eine leichte Schlagseite nach Südoreupa lässt sich durchaus konstatieren. Dabei verstand sich die Accademia als Alternative zu den Hochschulen in Zürich und Lausanne, mit einem dezidiert auf ein humanistisches-ganzheitliches Ideal ausgerichtetem Programm. Abstrahiert man diesen hohen Anspruch, so zeigte sich die Schule im Lauf der Jahre als eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, und es entstand ein eigenes Architektur-Ökosystem, das mittlerweile südlich der Alpen den Diskurs stark mitbestimmt. Aber, und das ist begrüssenswert: Es festigen sich auch die Bindungen nach Zürich und Lausanne, sowohl an der Schule, personell, in der Forschung und auch in der Praxis jüngerer Büros (zu letzterem vgl. wbw 1/2–2020 «Netzwerke der Jungen»).

Neue Institute

In der Lehre standen bis jetzt der architektonische Entwurf und das gestaltete Territorio als kulturell konnotierte Landschaft ganz im Mittelpunkt. Jüngst wurde die Schule reorganisiert, und es wurde ein neues Institut gegründet, um den Herausforderungen der Zeit besser zu entsprechen. Das Institut für urbane Studien und zur Landschaft (Istituto di studi urbani e del paesaggio, ISUP) verfolgt einen ganzheitlichen Einsatz der Recherche, der deutlich vom Paradigma des Entwurfs im Sinne der Tessiner Tendenza abweicht. Dabei sollen sowohl städtebauliche Aspekte verfolgt werden wie auch solche einer ganzheitlichen, vernetzten und alle Aspekte der Umwelt einbeziehenden Planung.

Ganz im Sinne des Wandels kann auch die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Denise Scott Brown verstanden werden. Oder besser: Im Sinne des Wandels und der Kontinuität einer internationalen Ausrichtung. Doch: Unter den Lehrenden an der Schule finden sich bislang kaum Frauennamen – hier darf die späte Würdigung von Denise Scott Brown auch als ein Signal verstanden werden. Und: Ein Schelm, wer denkt, dass die Arbeit von ihr und ihrem Partner Robert Venturi bei der stark an der Moderne ausgerichtete Tessiner Architektur keinen Widerhall finden würde. Gerade die späten Werke von so gegensätzlichen Protagonisten wie Mario Botta und Fabio Reinhart erscheinen nun plötzlich (reziprok) nahe an den urbanen und wirtschaftlichen Realitäten vor Ort: «Mainstreet is almost alright», auch in Mendrisio. Wir bleiben dran.

— Tibor Joanelly

Die Accademia begeht das Jubiläum unter anderem mit zwei Ausstellungen – auf dem Weg an die Biennale zu besichtigen in Mario Bottas Teatro dell’architecttura.

Architettura che fa Scuola / Architecture which Teaches
Progetto e Profezia. Il futuro secondo gli architetti / Project and Prophecy. The Future According to Architects
bis 24. Dezember 2021

Teatro dell’architettura Mendrisio
Via Turconi 25 6850 Mendrisio
www.tam.usi.ch
Di–Fr 14 – 18 Uhr, Sa–So 10 – 18Uhr

Parallel zur Ausstellung erscheint das Buch Tracce di una scuola. Accademia di architettura a Mendrisio, 1996–2021, Mario Botta (Hg.), Mendrisio Academy Press – Electa, Mendrisio-Milano 2021, 416 pp., Italienisch

© Michele Nastasi
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