Ein bedeutendes Urteil des Bundesgerichts

Aufatmen – nicht nur beim Zürcher Heimatschutz: Die 1925–28 in zwei Etappen erbaute Gründersiedlung der Familienheim-Genossenschaft Zürich im Quartier Friesenberg darf nicht aus dem kommunalen Inventar entlassen werden. Dieser Entscheid hat weitreichende Folgen für die besonders in Zürich verbreitete Praxis des Ersatzneubaus. Auch in Bern werden sich die Verteidiger der Siedlungen Tscharnergut und Meienegg in Bümpliz (Hans + Gret Reinhard) über den Entscheid aus Lausanne freuen.

Bemerkenswert ist die Begründung der Lausanner Richter: Der Stadtrat von Zürich hat bei der Inventarentlassung nicht denkmalpflegerisch argumentiert, sondern übergeordnete Interessen der Stadterneuerung ins Spiel gebracht. Und das geht nicht: Weder die Möglichkeit einer höheren Ausnützung, noch die Chance, mehr günstige Wohnungen zu bauen und schon gar nicht die möglicherweise bessere Energieeffizienz von Neubauten sind genügende Gründe für einen Abbruch – und auch nicht die Kombination dieser Argumente. Denn sie könnten gegen fast jedes Baudenkmal ins Spiel gebracht werden. Nur wenn die Schutzwürdigkeit aus denkmalpflegerischer Perspektive nicht (oder nicht mehr) gegeben wäre, darf die Gemeinde das Objekt aus dem Schutz entlassen.

Die Gründersiedlung am Friesenberg besteht aus Gruppen von schlichten Ein- und kleinen Mehrfamilienhäusern, die die auf 4.5 Hektaren ein veritables Gartenstadt-Quartier mit rund 150 Wohneinheiten mit einem kleinen, zentralen Platz bilden. Das Eindrücklichste daran ist weniger die Architektur der Häuser (Architekt Fritz Reiber) als ihre Einbindung in grosse Gärten. Die Einmaligkeit dieser Anlage und ihre Schutzwürdigkeit war in fachlicher Hinsicht nie in Zweifel gezogen worden. Und schon das Zürcher Verwaltungsgericht hatte als Zweitinstanz den Entlassungsentscheid der Stadt Zürich Anfang 2019 «regelrecht zerzaust» (NZZ).

Nun muss die Stadt gegen ihren politischen Willen einen Schutzumfang definieren. Dies schliesst Veränderungen am Schutzobjekt und punktuelle Verdichtungen nicht von vornherein aus, soweit sie mit dem Schutzziel vereinbar sind.

Schade ist nur, dass die benachbarten, einmaligen Zeugen des Neuen Bauens, nämlich die Siedlungsetappen Grossalbis und Kleinalbis von Kessler & Peter (1931–34) mit  ihren parallelen Kleinhaus-Reihen nie ins städtische Inventar aufgenommen wurden und daher heute schutzlos dem Abbruch entgegensehen.

Für inventarisierte Siedlungen bedeutet das aktuelle Urteil aus Lausanne nun aber einen verstärkten Schutz. Dies wird in Zürich und anderen Städten Folgen zeigen, wo in den letzten Jahren der Denkmalschutz mit Ersatzneubauplänen in Konflikt geriet. In Bern hat unlängst das Statthalteramt in einem Rekursentscheid ein Scheibenhochhaus der Siedlung Tscharnergut zum Abbruch freigegeben. Trotz einer freiwilligen Schutz- und Erneuerungsvereinbarung der Genossenschaft Fambau als Eigentümerin mit der Stadt Bern. Die Argumente in Bern waren keinesfalls besser als jene in Zürich. Angesichts des aktuellen Urteils aus Lausanne werden sie vor den Gerichten keine Chance mehr haben.

Die Praxis des flächenhaften Ersatzneubaus ist in den letzten Jahren immer stärker unter Kritik geraten. Auch die grosse Mehrheit nicht-inventarisierter Siedlungen stellt eine bedeutende kulturelle und soziale Ressource dar. Verdichtung ist auch möglich, ohne zwingend die bestehende Bausubstanz – und damit enorme Menge von Grauer Energie zu vernichten. Das zeigt erst jüngst die erfolgreiche Broschüre Siedlungbiografien entwerfen. Transformation statt Totalersatz (erschienen in der werk, edition).

— Daniel Kurz
© Zürcher Heimatschutz
Anzeige