Schönheit des Chaos

Plädoyer für eine Stadt des toleranten Nebeneinanders

Mathias Müller und Daniel Niggli

Ein Briefwechsel zwischen Kazuo Shinohara und Jacques Herzog & Pierre de Meuron von 1998 wirft ein Licht auf die Stadt, in der wir heute leben. Es treffen darin zwei Lesarten aufeinander: diejenige der «japanischen» Stadt, einem offenen System, und jene der «europäischen» als geschlossene Form – so wie sie von Aldo Rossi gesehen wurde.

Über das Gewirr der Metropole erhebt sich wie ein Luftschiff als Erkennungsmerkmal des Tokyo Institute of Technology die Halbröhre der Centennial Hall (1987). Der Bau ist eine eigentliche «Stadtmaschine», die konkret und zugleich unfassbar die Unordnung Tokios reproduziert.

«I hope to have the opportunity to hear how you in Switzerland, a country that has constructed cities that are beautiful in a more widely accepted sense, view this theory of Tokyo.»1 So schliesst 1998 Kazuo Shinohara einen kurzen Briefwechsel mit Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Darin erläutert er die These, dass die zeitgenössische Stadt nichts anderes als die Schönheit der Konfusion ausdrücken könne. Uns ist nicht bekannt, ob seine freundliche Neugier je eine Antwort fand, und so könnte dieser Text auch als Versuch zu einer solchen verstanden werden.

Shinohara wird gemeinhin als Architekt meisterhafter Einzelbauten rezipiert. Er betont die Kraft und die Permanenz des einzelnen Hauses. Weniger bekann ist, dass sich seine Position von Anfang an auf einem doppelten Fundament entwickelt, auf der konsequenten Auslotung des architektonischen Potenzials des einzelnen Hauses, genauso wie auf der Realität der modernen japanischen Stadt. Drei Thesen, die Shinohara schon früh in seiner Karriere, zwischen 1961 und 1964 in verschiedenen Publikationen aufstellt, verdeutlichen dies: «1. The space of a house must be as large as possible.»2; 2. «A house is a work of art.»3; 3. «The expression of modern townscape must be found in the beauty of chaos, and not necessarily in that of harmony.»4

Shinohara schreibt diese Thesen in einer Zeit, als sich Japan an einem kulturellen Wendepunkt befindet. Das über Jahrhunderte hinweg abgeschottete Land hatte in den 1850er Jahren eine erzwungene Öffnung zum Westen erlebt und eine eigene Form der Moderne geschaffen. Durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört, biegt Japan in den 1960er Jahren auf die wirtschaftliche Überholspur ein und verschreibt sich westlicher Konsumkultur und Technologiegläubigkeit. Tokio und sein durch die Bombardierungen weitgehend verwüstetes Territorium gleicht dem weissen Blatt Papier, auf dem die junge japanische Avantgarde die Realisierung einer modernen Vision plant.

Die Cenntennial Hall schafft Orientierung in Tokio.

Shinohara grenzt sich zu Beginn seiner Karriere sehr dezidiert von einer simplen Aneignung fremder Ideologien ab und setzt sich intensiv mit der traditionellen japanischen Architektur auseinander. Er misstraut den grandiosen Visionen der Metabolisten und hat Zweifel an der Planbarkeit von Stadt. Mitte der 1960er Jahre reift in ihm die Erkenntnis, dass die Stadt des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts weder auf der Basis der japanischen Tradition noch mit Hilfe der Theorien der westlichen Moderne zu begreifen ist. Er begründet seine Bedenken mit einem Begriff, der in der neuen technokratischen Planungskultur keinen Platz findet: «Schönheit». «There is a certain beauty in districts never intended for (aesthetic) appreciation, while beauty does not exist in modern communities in which individual houses were designed to be beautiful.»5

Die liegende Halbröhre der Centennial Hall in Tokio gerät über dem aufstrebenden Schaft in die Schwebe, eine Collage als radikales Zeichen ohne Geschichte.

Auf seinen Streifzügen durch das rapide wachsende Tokio entdeckt er eine neue Form von Stadt, die auf der Basis der alten kleinteiligen Parzellenstruktur im Entstehen begriffen ist. Er ist fasziniert vom irrational anmutenden, chaotischen Wuchern einer urtümlichen und lebendigen Stadt aus Häusern, die nebeneinander stehen als hätten sie nichts miteinander zu tun. Dennoch sieht er in ihnen eine Stadtlandschaft, welche die metabolistischen Grossprojekte seiner Zeitgenossen an Dynamik und Lebendigkeit übertrifft. Chaos und Irrationalität werden zu jener Zeit als negativ konnotierte Begriffe wahrgenommen. Für Shinohara als ausgebildeten Mathematiker sind sie jedoch Phänomene, die in der Chaostheorie und später in den Komplexitätswissenschaften eine Entsprechung finden.6 Durch sein mathematisch geschultes Denken sieht er die Stadt als abstraktes System, das durch eine unendliche Zahl von Funktionen bestimmt wird.7 Eine solche Komplexität kann nie zu einer endgültigen und in sich abgeschlossenen Lösung tendieren.

Die Kombination aus wachsender Komplexität bei gleichzeitigem politischem Kontrollverlust führe letztlich dazu, dass Städte eher Unordnung als Ordnung ausdrücken.8 Die Mechanik des Chaos stellt für Shinohara deshalb eine produktive Grundbedingung dar, denn sie sei ein notwendiger Katalysator für die Vitalität und Lebensfähigkeit einer Stadt; er benennt dieses Phänomen mit «progressiver Anarchie.»9

Wenig überraschend prophezeite Shinohara, dass auch die Städte Europas irgendwann dieses Stadium des Chaos durchschreiten müssten. In seinem Essay Wien und Tokio, der anlässlich eines zweimonatigen Aufenthalts in Wien entstand, vergleicht er die beiden Stadtmodelle und erweitert seine Thesen um das Begriffspaar des offenen und geschlossenen Systems.10 Da Tokio den Aspekt der Einheitlichkeit aufgegeben habe, sei es zu einer offenen Stadt geworden, während Wien ein geschlossenes System darstelle. Offenheit sei jedoch eine unabdingbare Eigenschaft für den Erhalt der Vitalität und Überlebensfähigkeit grosser Städte. Ein derart kalter Blick auf die Realität führt zu einem anderen Verständnis von Schönheit, einer Schönheit der Lebendigkeit, der Kontraste und Uneinheitlichkeit, der Simultaneität und Zufälligkeit. Mit dieser radikal affirmativen Haltung besteht keine Notwendigkeit mehr, Bilder der Vergangenheit zurückzurufen.11 In dieser dem europäischen Verständnis diametral entgegengesetzten Haltung kann man einen ideologischen Gegensatz erkennen: Freiheit versus Kontrolle!

Zur Charakterisierung der japanischen Stadt benutzt Shinohara auch den Begriff der «Wildheit» (S. 15). Der darin mitschwingende martialische Unterton beschreibt aus westlicher Sicht den Kampf der schwierig zu bändigenden Kräfte der Stadt ziemlich treffend: die Stadt als Dschungel. Im Kontext von Wildheit werden Formfindungsprozesse widersprüchlich, Kontrolle geht verloren und der Zufall wird zu einem Entwurfswerkzeug. In Projekten wie dem House in Uehara oder dem House under High-Voltage Lines (beide S. 16) werden innere und äussere Widersprüche nicht nur zugelassen, sondern zum generierenden Moment der Architektur.

Es ist nun einigermassen paradox, dass diese Theorien und Überlegungen zur Stadt von einem Architekten stammen, dessen bauliches Oeuvre hauptsächlich aus Einfamilienhäusern besteht. Doch für Shinohara definiert sich das Verhältnis zwischen Stadt und Haus nicht widersprüchlich, sondern reziprok: Das Haus ist für ihn immer Ausdruck einer Ganzheit und einer statischen Komposition, die das tägliche Leben verkörpert. Die Stadt hingegen produziert gerade jene Schönheit des Chaos, die alle diese Einheiten versammelt.12

In Aldo Rossi finden wir in Europa ungefähr zeitgleich eine Persönlichkeit, die sich ebenso radikal der Architektur der Stadt verschrieben hat. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der europäischen Stadt und ihren Bruchstellen führen bei ihm jedoch zu einem diametral anderen Verständnis. Als kollektives Projekt ist die Stadt für Rossi die Summe aller rationalen und irrationalen Bedingungen, ein gebautes Stück Architektur. Mit der These der Unteilbarkeit der Stadt formuliert er eine fundamentale Kritik am Funktionalismus des modernen Städtebaus. Sein morphologischer Ansatz ermöglicht ein Wiederanknüpfen an die Geschichte, wobei der Begriff des Typus zum entscheidenden konzeptionellen Instrument wird, um Analyse und Entwurfspraxis zusammenzuführen. Im Typus nämlich seien die Erinnerungen des Kollektivs abgelagert, die der Bildung der Form vorausgingen. Allerdings begegnet diese Utopie der Form der tatsächlichen Stadtentwicklung und der ungeliebten Realität reflexartig mit einem Amalgam aus Historie, diffuser Erinnerung, Sehnsüchten und Ideologie – mit dem «immer schon» der Geschichte.13

Das führt zurück zu der von Shinohara am Anfang aufgeworfenen Frage. Gerade Jacques Herzog und Pierre de Meuron, bekanntlich Studenten von Aldo Rossi an der ETH Zürich, haben die Grenzen der Übertragbarkeit des theoretischen Apparats ihres italienischen Lehrers auf die hiesigen Verhältnisse früh erkannt und entsprechend ihr Instrumentarium zur Erkundung der Stadt radikal erweitert.14

Während für Rossi Architektur letztlich eine Erinnerungstechnologie mit dem Ziel einer historischen Kontinuität darstellt, verabschiedet sich Shinohara schrittweise von der traditionellen Architektur und ihren kulturellen Bindungen. Shinoharas Weg führt weg von einer historisch determinierten Architektur, die sich praktisch als allgemeingültiges Destillat zeitloser Inhalte versteht, hin zu einer thematischen. Der Bahnhofsknoten Shibuya in Tokio wird für ihn zu einem Ort, an dem die fehlende Notwendigkeit von Bildern der Vergangenheit eine explizite Qualität darstellt. Direkt aus den lokalen Bedingungen von Mobilität und Kommerz entstanden, steht dieser Ort nur mehr für sich selber, als eine radikal neue Form von Stadt und Architektur.

Die Foyerflächen der Centennial Hall in Tokio sind durchdrungen von den starken Geometrie aus Röhre und Schaft.

Verlassen wir also für einen Moment die vor klischierten Bildern strotzende Welt unserer «beautiful cities in a more widely accepted sense», wie sie Shinohara im zitierten Brief an Herzog und de Meuron benennt. Betrachten wir mit kaltem, aber empathischem Blick die Realität der zeitgenössischen europäischen Stadt. An ihren Rändern und in den Agglomerationen sind die von Shinohara konstatierten entfesselten Kräfte schon längst am Werk, trotz eines dichten Netzwerks von Regulierungen, Vorschriften und planerischen Ordnungsbemühungen. Acht Jahre vor dem Briefwechsel zwischen Shinohara und den Basler Architekten publizierte die archithese ein Heft mit dem Titel Neue Ansichten – Dirty Realism. Darin findet sich ein Essay von Fritz Neumeyer mit dem sprechenden Titel Realität als Disziplin, der die Wandlung der Städte unter der geballten Wucht der Industrialisierung und der damit verbundenen Neuorientierung der Architektur beschreibt – ironischerweise nur wenige Jahre vor Neumeyers Wandlung zum theoretischen Apologeten der traditionellen europäischen Stadt.15 Er fordert, auch mit Blick auf die durch Rossi beeinflusste historistische Rückbesinnung, dass eine moderne Architektur für die Grossstadt nicht als historisches Desiderat betrachtet werden sollte, sondern als Instrument für die Wahrnehmung und Konstruktion zeitgenössischer Realität.

Selbst die Deckenuntersucht der Centennial Hall in Tokio paraphrasiert die urbane Umgebung: Eine grossartige Kollision der Elemente, progressives Chaos. Fassade, Struktur, Haustechnik und Erschliessungen führen je ein Eigenleben; Architektur wird zum Medium.

Damit stellt sich die Frage, inwieweit der rossianische Begriff des Typus, der sich primär historisch legitimiert (obwohl er das eigentlich nicht müsste), überhaupt als Arbeitsinstrument für unsere Realität taugt. Marcel Meili etwa hat den Typus weniger als entwerferisches, denn als erkenntnistheoretisches Instrument definiert, das die unsichtbaren Eigenschaften allgemeiner kultureller Prozesse zu vermessen vermag. Die Architektur ist – und das ist entscheidend – nicht mehr nur ein «Beweismittel für die Geschichtlichkeit einer Stadt, die nicht mehr die unsere ist», sondern sie wird zu einem Medium für das Ganze.16

Mit dieser Sicht auf die Architektur als Wahrnehmungsorgan oder Transformationsapparat ist Shinoharas Werk besser verständlich. Vom phänomenologisch beeinflussten Crevice Space17– einer räumlichen Spaltung – in diversen Häusern des zweiten Stils über das House in Uehara scheint der Weg zur Centennial Hall des Tokyo Institute of Technology vorgezeichnet. Tatsächlich vollzieht sich hier der Sprung von der Wahrnehmungsmaschine zur Stadtmaschine: Die Centennial Hall ist technoid und mysteriös, heroisch und industriell, sprechend und stumm zugleich. Sie ist nicht fassbar und trotzdem präsent, sie (re-)produziert ein echtes Stück Tokio. Die radikale Emanzipation Shinoharas von der japanischen Tradition hin zu einer künstlerisch autonomen, in der Realität der zeitgenössischen Stadt gegründeten Architektur, zeichnet den Weg nach von einer «Kunst der Interpretation»18 hin zu einer Architektur als Medium.

Shinoharas höflich vorgebrachter Vorbehalt zur «geschlossenen» europäischen Stadt – und die mit ihm implizierte fehlende Wandelbarkeit – erscheint uns heute eher als eine für den japanischen Architekten typische Zuspitzung. Wir leben in Städten, die zugleich «europäisch» und «japanisch» sind. Shinoharas Blick auf deren komplexe Realität könnte uns aber dennoch als Vorbild dienen: Das, was da ist, und nicht das, was vielleicht einmal war, wäre somit Material für unser Modern next19. Es wäre das Material für eine Stadt des toleranten Nebeneinanders, eine Stadt der programmatischen, typologischen und architektonischen Freiheit: der europäischen Stadt der Zukunft.

Mathias Müller (1966) und Daniel Niggli (1970) führen zusammen das Architekturbüro EM2N in Zürich.

1 Kazuo Shinohara, The Mechanism of Fiction Never Stops Functioning, in: SD (Supesu desain) 2 – 1998, Tokio 1998, S. 115.

2 Shin-Ichi Okuyama, Worlds and Spaces: How Kazuo Shinohara’s Thought Spans between Residential and Urban Theory, in: 2G No. 58 / 59, Barcelona 2011, S. 36. Er zitiert Shinohara wie folgt: «Seikatsu kukan no atarashi shiten o motomete (Seeking new viewpoints about living space)», Shinkenchiku, vol. 36, no. 1, Tokio, Januar 1961, S. 105.

3 Kazuo Shinohara, Jutaku wa geijutsu de aru (A house is a work of art), in: Shinkenchiku, vol. 37, no. 1, Tokio, Januar 1962, S. 77.

4 Kazuo Shinohara, Jutaku Kenchiku (Residential Architecture), Kinokuniya, Shinsho, Tokio 1964, S. 103.

5 Kazuo Shinohara, wie Anm. 4, S. 102.

6 Kazuo Shinohara, Toward a Super-Big Numbers Set City and a Small House Beyond, 2000, in: 2G 58 / 59, Barcelona 2011, S. 281.

7 Kazuo Shinohara, wie Anm. 6, S. 280.

8 Kazuo Shinohara, wie Anm. 6, S. 284.

9 Kazuo Shinohara, Auf dem Weg zur Architektur, in: Baumeister 11 / 1984, München, S. 49.

10 Kazuo Shinohara, Wien und Tokio, in: Institut für Wohnbau und Tadao Andō (Hg.): Bewohnbare Architektur, Wien 1990, S. 92.

11 Kazuo Shinohara, The Context of Pleasure, in: The Japanese Architect, Sept. 1986, Tokio, S. 23.

12 Kazuo Shinohara, wie Anm. 6, S. 287. An anderer Stelle beschreibt Shinohara Haus und Stadt als voneinander abhängig. Vgl. S. 15 in diesem Heft.

13 Ulrich Schwarz, Dieses ist lange her, in: archithese 3.2014, S. 34 – 39.

14 Philip Ursprung, Genealogie – Aldo Rossi und Herzog & de Meuron, in: Tec21 25 / 2011, Zürich, S. 31, Siehe auch Marcel Meili, Ein paar Bauten, viele Pläne, in: werk, bauen + wohnen 12 – 1989, S. 26 – 31.

15 Fritz Neumeyer, Realität als Disziplin. Grossstadtarchitektur und urbane Identität, in: archithese 1.1990, S. 22 – 27.

16 Marcel Meili, Probleme unserer Entwurfsarbeit, Harvard Lecture, Juli 2002.

17 Kazuo Shinohara, Beschrieb zu The Uncomplete House, in: Kazuo Shinohara, Berlin 1994, S. 32.

18 Fritz Neumeyer, wie Anm. 15.

19 Kazuo Shinohara, Chaos and Machine, in: The Japan Architect: Shinkenchiku 373, Mai 1988, Tokio, S. 31.

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