Im Weltmassstab

Roche Bau 1 von Herzog & de Meuron

Daniel Kurz

Mit seinen 178 Metern Höhe nimmt das Büro-Hochhaus des Pharmakonzerns Roche einen eigenen Massstab für sich in Anspruch. Der im Stadtbild omnipräsente, asymmetrisch gestaffelte Turm beherbergt ein effizientes Innenleben mit räumlichen Glanzpunkten.

Roche Bau 1 von Herzog & de Meuron, Basel

Basel, Mitte Juni: Rollkoffer überall in der Stadt, eilige und locker flanierende Menschengruppen, die sich zu Strömen verdichten, stauen: Es ist Art Basel. Jedes Hotel, jedes Restaurant ist ausgebucht, und schon lange vor der Erfindung von Airbnb vermieteten die Baslerinnen und Basler verfügbare WG- oder Gästezimmer an die Messetouristen aus aller Welt. Die Art ist die weltgrösste Messe ihres Fachs – nicht anders als die Uhren- und Schmuckmesse Baselworld. 60 000 bzw. 100 000 Besucherinnen und Besucher vermehren in diesen Tagen die Einwohnerzahl der Stadt. Das sonst so ausgeprägt auf sich selbst bezogene Basel wächst dann weit über sich selbst hinaus – es wird vorübergehend zu einer Metropole von Weltrang. Basel, Anfang Juli: Kompakt sieht die Stadt aus von hier oben. Ordentlich um ihre Innenhöfe herum gruppiert; aus der grossen Höhe wirkt alles einheitlich im Massstab. Klein. Allenthalben blickt man über die Grenzen des Kantons hinaus: Jurahöhen, der Lauf des Rheins, im Norden noch viel freier Raum. Das oberste Geschoss des Roche-Turms, offiziell «Bau 1», Ende 2015 bezogen, steht den 2000 Mitarbeitenden als Cafeteria und Treffpunkt offen. Hier herrscht eine elegante und entspannte, auch etwas abgehobene Atmosphäre; die Stadt wirkt fern und zwergenhaft wie ein Modell; der Blick schweift in weitere Horizonte. Basels Stadtbild ist mit dem Roche-Turm grundlegend verändert worden. Er ist fast überall zu sehen, aus den Rebbergen Südbadens ebenso wie aus dem Zug schon kurz nach Rheinfelden, von den Rheinbrücken wie aus fast jeder Basler Quartierstrasse: weiss, etwas distanziert und in eigentümlicher Art gestaffelt. Die ungewohnte Dimension hatte schon – und gerade – während der Bauzeit etwas Unerhörtes, geradezu Monströses. Ein wenig wie die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die plötzlich in die engen Gassen von Venedig ragen.

Dynamische Pharmaindustrie

Der 178 Meter hohe Turm setzt in Basel einen eigenen Massstab, der in der Stadt und ihrer Topografie keinerlei Entsprechung hat – wohl aber in der enormen Bedeutung, welche die Pharmaindustrie mit den zwei Grosskonzernen Novartis und Roche für Basel besitzt: Rund dreissig Prozent der Wertschöpfung in der Region generiert der Pharma- und Life-Science-Sektor, fast sechzig Prozent unter Einschluss aller von ihm abhängigen Branchen und Zulieferbetriebe.1 Dass Universität, ETH und Universitätsspital am Rand der Basler Altstadt tatkräftig einen eng verknüpften Gesundheits- und Life-Science-Campus bauen, trägt dem Gewicht dieses Sektors Rechnung – und gleicht den umstrittenen Plänen für ein neues Zürcher Hochschulquartier (vgl. «Dichte Packung», wbw 4 – 2016).
Seit sich die «Basler Chemie» nach der Katastrophe von Schweizerhalle in den frühen 1990er Jahren neu erfand, sich von der chemischen Massenproduktion trennte und auf den hochspezialisierten und rentablen Pharmasektor konzentrierte, weist diese Branche eine einmalige Wachstumsdynamik auf: Ihre Wertschöpfung legt seither jährlich um rund sechs bis sieben Prozent zu – ein Mehrfaches des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. Die Arbeitsproduktivität ist viermal höher als der schweizerische Durchschnitt und sogar doppelt so hoch wie im Finanzsektor.2 Hochqualifiziertes Personal und hohe Löhne sorgen für erfreuliche Steuererträge im Stadtkanton, der regelmässig Überschüsse erzielt und mittlerweile den Nachbarkanton Basel-Landschaft finanziell unterstützt.3
Gegenüber den Pharmakonzernen freilich ist der Kanton ein Zwerg: Der weltweite Jahresumsatz des Roche-Konzerns belief sich 2014 auf 47,5 Milliarden Franken, jener der baselstädtischen Kantonsrechnung nur gerade auf rund 4 Milliarden, nicht einmal ein Zehntel davon.
Die Bühne des Pharmakonzerns ist die Welt – nur 9 000 seiner weltweit 88 000 Mitarbeitenden sind in Basel beschäftigt, und ein verschwindend kleiner Teil der Produktion ist hier angesiedelt. Trotzdem ist Roche sehr eng mit Basel verbunden: Rund die Hälfte der Aktien ist im Besitz der Familien Hoffmann und Oeri, deren Mäzenatentum die Stadt ihren kulturellen wie sportlichen Vorrang zu einem wesentlichen Teil verdankt.4 «Solange die Familie den Konzern kontrolliert», sagt die ehemalige Basler Regierungsrätin Barbara Schneider, «wird Roche in Basel bleiben.»

Mehrgeschossige Kommunikationszonen verbinden die Büroetagen im Roche-Turm von Herzog & de Meuron.

Lokal und global verortet

Der weisse Turm an der Grenzacherstrasse macht diese Kräfteverhältnisse anschaulich. Sein Massstab ist jener der globalisierten Weltwirtschaft, in der Roche eine führende Rolle spielt. Er repräsentiert Weltstadt und steht fremd im vergleichsweise kleinen Basel, das er im gleichen Mass überragt, wie sich Management-Spitzengehälter von schweizerischen Durchschnittseinkommen abheben. – Dass der Turm aber so beherrschend ausfiel, und dass er bald zur Speerspitze einer ganzen Gruppe von sehr hohen Bauten werden wird, ist die direkte und unausweichliche Folge des Entscheids, den Konzernsitz auf dem eng begrenzten Basler Stammareal zu behalten – und weder ins Ausland noch auf die industriellen Roche-Areale in Kaiseraugst umzusiedeln.
Städtebau geht normalerweise vom Allgemeinen aus, von Regeln, die Gebäudehöhen und Baumassen bestimmen. Hier war es umgekehrt: Bekannt waren der Flächenbedarf und die Möglichkeiten des Areals – danach hatte sich die Volumetrie zu richten. Eine Gesamtstrategie für das Areal – von Herzog & de Meuron erarbeitet und mit dem Kanton vereinbart – legte 2006 die Grundlage, ein Bebauungsplan setzte 2010 die Rahmenbedingungen für das «Südareal» mit dem Turm: Als massgebliche Vorschriften begrenzten ein 45°-Winkel zu den Nachbarparzellen sowie der Zweistundenschatten dessen Höhe und führten zur Staffelung der Westseite. Nach dem Scheitern des ursprünglichen Projekts einer «Doppelhelix», die sich als zu unflexibel erwiesen hatte, wurden in Testplanungen mit dem Kanton verschiedene Grundlösungen verglichen, mit einem oder zwei Türmen und unterschiedlichen Volumetrien, Staffelungen und Fassaden. Einen Wettbewerb hat es nie gegeben. «Die Spielregeln», sagt Martin Steinmann, Präsident der Basler Stadtbildkommission, «wurden stets eingehalten, die Spielräume der Diskussion waren jedoch äusserst eng.»
Steht man am Fuss des Turms, wirkt seine Höhe gebändigt. Die Perspektive verkürzt seine Höhe enorm, und die Sockelzone öffnet sich zur neu gestalteten Grenzacherstrasse. An der Strasse verhält sich der Turm wie ein normales Haus, ja er verschwindet fast. Das Längsrechteck löst sich aus dem Grundraster des Roche-Areals und orientiert sich am nahen Rhein. Die Schichtung der Geschosse und die weisse Fassade erinnern an den einheitlichen Ausdruck der Werksbauten, die seit den 1930er Jahren von Salvisberg und Rohn gebaut wurden. Die in unterschiedlichem Rhythmus gestaffelte Silhouette ist das hervorstechendste Merkmal – sie versetzt den gebänderten Turm in eine vibrierende Bewegung.

Geplante Verdichtung des Roche-Areals in Basel

Durchtrainiert

Durchwandert man den Bau, wirkt alles effizient, durchtrainiert, präzise. Räumlichen Luxus bietet vor allem der Sockel mit dem zweigeschossigen Foyer und den massiven Wendeltreppen, die zum Auditorium führen. Im Kern finden sich imposante Liftbatterien; die Aufzüge mit ihren überhohen Kabinen öffnen und schliessen sich wie von Geisterhand gesteuert.
Das Büroraster von 2,90 mal 2,90 Metern gliedert Fassade und Nutzschicht. In den einzelnen Etagen kommen bis zu 120 Mitarbeitende unter; der Raum ist teils offen, teil eingeteilt in Cubicles – von brusthohen, teilweise durchbrochenen Wänden eingefassten Bürozellen. Die effiziente Ordnung öffnet sich jeweils am westlichen oder östlichen Ende: Zwei-, respektive dreigeschossige, von den Architekten Voids genannte Kommunikationszonen bieten direkte Verbindungen zwischen den Geschossen. Mit geschwungenen Galerien und weissen Wendeltreppen aus Stahl bieten sie ein spektakuläres Raumerlebnis; hier trifft man sich zum Kaffee oder für informelle Besprechungen.
Ökologie, so erfährt man, wurde ebenso gross geschrieben wie Effizienz: Das Weiss der Innenräume reduziert spürbar den Strombedarf für Beleuchtung; LED-Leuchten tun das ihrige dazu. Geheizt wird mit Abwärme aus dem Areal, gekühlt mittels Grundwasser-Wärmepumpen. Der «Bau 1» ist nur der erste Schritt in der Verwandlung des Roche-Areals: Der Bebauungsplan für das «Südareal» sieht mittelfristig eine Öffnung der Arealgrenzen zum Rhein und die Erweiterung der Uferpromenade vor. Das «Nordareal» jenseits der Grenzacherstrasse wird mit sehr hohen Bauten verdichtet, deren Fussabdruck sich strikt an das Raster der Salvisberg-Planung aus den 1930er Jahren hält: Ein 205 Meter hoher Zwilling steht quer zum «Bau 1», an seiner Seite zwei Hochhäuser von 70 und 132 Metern Höhe.

Naturgewalten

Zürich, Mitte Juli. Der Kritiker ringt um eine Einschätzung des Bauwerks. Noch vor ein oder zwei Jahren, während des Baus, war es ihm monströs erschienen, als zu krasser Massstabssprung. Wie so oft wirkt der Prozess der Veränderung brutaler als sein Ergebnis. Inzwischen hat er sich, wie die Basler selbst, an den neuen Massstab nicht nur gewöhnt, sondern ihn auch akzeptiert. Der Bau hat in seiner Vergleichslosigkeit etwas von einem Naturphänomen, einem sehr grossen Berg. Er ruht in sich, obwohl er alles andere überragt. Das macht es indessen auch schwierig, den Turm als Architektur zu würdigen. Die Basler sind stolz auf ihn, sagt die frühere Baudirektorin Barbara Schneider, die selbst an seinem Fuss wohnt. Debatten und Kritik auch zum neuen Bebauungsplan hielten sich in engen Grenzen, und sie selbst hatte im Verlauf der Planung nie grundlegende Bedenken: «Es ist auch eine Aufgabe der Politik, Entwicklungen zu ermöglichen, nicht nur, sie einzuschränken.»
Manche Kritiker halten den Turm für zu wenig spektakulär, sie vermissen eine expressive Aussage, ein explizites Höherstreben. Die ruhige Schichtung von Brüstungs- und Fensterbändern scheint ihnen banal. Ihnen widerspricht Martin Steinmann: «Gottseidan ist sie das! Ein so grosses Gebäude muss nicht mit grossen Gesten auf sich aufmerksam machen.»
Es bleiben die Fragen: Darf man das? Soll man das? Die Fakten selbst haben sie beantwortet. Basel ist durch den Erfolg der Pharmaindustrie verändert worden. Und im Gegensatz zu vielen anderen Städten ist die Bedeutung der Wirtschaft unübersehbar. Aber ist das falsch? Der Basler Soziologe und Städteplaner Philippe Cabane (vgl. Artikel in diesem Heft) lobte in einem Artikel der Basler TagesWoche die Radikalität und Funktionalität des Turms als Zweckbau, die den politisch korrekten Massstab bricht: «Gerade diese brutale Ehrlichkeit macht diesen Turm urban.»5

1 Urban Roth, Region Basel – Pharma-Metropole am Tor zur Schweiz, in: Die Volkswirtschaft 11 – 2008, S. 47– 51.
2 Michael Grass, BAK Basel, Bedeutung der Pharmaindustrie für die Schweizer Volkswirtschaft, Präsentation, 15.11.2015.
3 Mit einer Zahlung von 80 Millionen Franken an den finanziell notleidenden Landkanton sicherte Basel-Stadt 2015 dessen Engagement für die gemeinsame Universität.
4 Roche – Mehrheitsaktionäre, abgefragt 16.7.2016. Grösster Minderheitsaktionär ist übrigens der Konkurrent Novartis.
5 TagesWoche, Der Turm, der Basels Stadtbild in Schieflage brachte, 17.9.2015

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