Terrestrische Architektur

Orientierung für die Praxis im Klimawandel

Tibor Joanelly

Das Thema des klimaneutralen Bauens findet in unserer Zeitschrift zunehmende Aufmerksamkeit. Einiges wurde dazu gesagt und gefordert, vor allem in Bezug auf Nachhaltigkeit und den Einsatz von Technologie.

Das globale Bild allerdings tritt in diesem Diskurs in den Hintergrund – obwohl gerade dieses den Beruf der Architekturschaffenden stark formt. Redaktor Tibor Joanelly stellt Aufgaben und Chancen in einen Zusammenhang.

Neue Entwurfsansätze? COSMO ist eine mobile Kläranlage, die ein baumartiges Mikroklima schafft. Projekt von Andrés Jaque / Office for Political Innovation. 
Bild: ImagenSubliminal (Miguel de Guzmán + Rocío Romero)

Was bedeutet Greta Thunbergs Schulstreik eigentlich für die Architektur? Die vielleicht etwas naive Frage führt nicht unbedingt zu einer einfachen Antwort. Eine erste billige Ausflucht etwa wäre, dass es auf Architektur gar nicht ankomme. Und eine zweite bliebe vielleicht sogar aus, weil sie von einem Gefühl der Panik verdrängt wird: Wenn wir nicht auf den Klimawandel reagieren, dann wird Architektur als kultureller Wert in Bälde einfach keine Rolle mehr spielen – ausser für die Selbstdarstellung jener Potentaten oder Nabobs, die sich vor der Verantwortung davonstehlen. Alleine diese Befürchtung ist schon Grund genug, sich Gedanken um die gesellschaftliche Rolle der Architekturschaffenden in Zeiten beschleunigten Klimawandels zu machen.

Stile sind Ablenkungsmanöver

Der Zeitpunkt ist aus einem weiteren Grund nicht schlecht gewählt. Denn auch wenn die Auftragsbücher in den Büros gefüllt sind, so braucht es nicht viel Durchblick, um festzustellen, dass die Architektur eigentlich in einer Krise steckt. Die grassierende Vielfalt an Stilen, Ismen und Analogien, die sich auf historisches Material kaprizieren, ist nicht nur Ausdruck von schwindender gesellschaftlicher Relevanz – oder von fehlender Utilitas, um wieder einmal Vitruv zu zitieren. Sie muss vor dem Hintergrund der Klimaerwärmung schlicht als Ablenkungsmanöver verstanden werden.

Dabei ist nichts gegen Vielfalt einzuwenden, im Gegenteil. Beunruhigend ist vor allem die sich beschleunigende Verwertung von Referenzen, wie sie Marcel Bächtiger 2017 in einem Artikel von Hochparterre treffend diagnostiziert hat.

Die Architektur folgt dabei einem grösseren Trend: Bächtigers Retrophilie kann mit wenigen Argumenten auf ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen zurückgeführt werden, das der polnische Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann mit Retrotopia bezeichnet hat: Flucht vor der Zukunft in die Vergangenheit. Ein Blick auf unser Verhältnis zur Technologie genügt: Ihr beschleunigtes Line-up von Innovationen führt zu einer immer grösser werdenden Anzahl an obsoleten Dingen und Menschen. Mit dem Resultat, dass sich das Gefü l der Nostalgie immer weiter ausbreitet. Kann Architektur für die Welt nur noch ein Zerrbild sein?

Wohl eher nicht. Schauen wir erst einmal genauer hin, denn Retrotopia ist nur ein Aspekt der diagnostizierten Krise. Weil der Klimawandel stets eine lokale und zugleich eine globale Dimension hat – CO₂ etwa wird lokal produziert und wirkt sich global aus – soll ab jetzt anstelle des begrifflichen Gegensatzes von Rückschau und Fortschritt vom «Lokalen» und vom «Globalen» gesprochen werden. Die zwei letztgenannten Begriffe sind als Verallgemeinerungen der ersten beiden zu verstehen, denn das Lokale kann mühelos mit Tradition und Terroir in Verbindung gebracht werden, das Globale mit Expansion und bedingungslosem Fortschritt. Beides hilft nicht weiter.

Die beiden Begriffe «lokal» und «global» sind wie beim CO₂ auch auf der Mentalitätsebene der Architektur miteinander verschränkt: In Basel etwa gibt es neben einem ausgesprochenen Stolz auf das Eigene auch das Phänomen der Starchitecture. Gerade die jüngste Produktion von Herzog & de Meuron zeigt, ähnlich wie jene von OMA / Rem Koolhaas in Rotterdam, wie nahe die beiden Pole beieinanderliegen.

Die Mittel, die das Digitalzeitalter zur Verfügung stellt, bilden die wesentlichen Motoren der hier bemühten Dialektik. Kleine Architekturfirmen nutzen Social Media, um ein internationales Publikum mit authentischen Bildern zu bedienen. Umgekehrt brauchen international tätige Architekturkonzerne den konkreten Ort, damit ihre überfliegenden Bilder Gestalt annehmen. Diese Wechselbeziehungen zeigen, dass es kein Entweder-oder gibt. Wir leben glücklicherweise in einer Zeit der Assemblagen, die sich aus den Ingredienzen des Lokalen und Globalen zusammensetzen.

Tradition und Moderne

Es darf allerdings bezweifelt werden, ob die beiden hier beschriebenen Rollenmodelle etwas dazu beitragen können, um kommende klimabedingte Anstrengungen zu bewältigen. Ein Grund dafür ist, dass beide in je eigenen Vorstellungen gefangen sind. Beide sind gewissermassen eingesperrt zwischen beschaulicher Retrospektion und rasender Modernität – man könnte auch sagen: zwischen Narzissmus und Arroganz. Weil die Leuchtfeuer von Tradition und Moderne noch immer glimmen, ist es schwierig, sich von ihnen zu lösen. Zugleich reichen sie nicht mehr aus, um sich im Dunkeln zu orientieren. Hier tut ein neues Navigationssystem Not.

Wenn man dem Techniksoziologen Bruno Latour und der These seines letztjährigen Buchs Das terrestrische Manifest Beachtung schenken möchte, dann haben beide Leuchtfeuer – Latour spricht von «Attraktoren» – ihre Vorzeichen von «positiv» auf «negativ» gewechselt. Das bedeutet nichts weniger, als dass die Ideen hinter dem «Lokalen» und dem «Globalen» stets dazu führen, dass sich die Situation verschlechtert. Wir sind entweder zu rückwärtsgewandt und desinteressiert am «Globalen» oder wir vergessen aus vorausstürmender Zuversicht die wichtigen Bedingungen des «Lokalen». Die negativen Effekte der Globalisierung können gemäss Latour nur durch einen neuen Attraktor umgekehrt werden. Für eine «reflexive Modernität» – so das vom Philosophen formulierte Ziel – schlägt Latour einen «Attraktor des Terrestrischen» vor. Das meint, in einem materiellen Sinn auf die Erde als realen Planeten hin ausgerichtet, an sie gebunden zu sein. Latour verweist auf die unzählbaren und gegenseitigen Abhängigkeiten von Boden, Luft, Vegetation, Menschen- und Tierreich. – Und was bedeutet ein terrestrischer Attraktor für die Architektur?

Zuerst einmal bietet sich der Begriff des Terrestrischen als ein gemeinsamer Nenner an, nach dem sich handeln lässt. An ihm kann sich die Architektur neu ausrichten, um wieder Relevanz zu erlangen. Wer möchte denn bei der Rettung der Welt noch abseitsstehen? Obwohl Latours Denken bisweilen esoterisch erscheint, offeriert es einige Konzepte für eine Navigation in die Zukunft, bei der Naturen, Gesellschaften, Technologien und Ästhetiken gleichermassen Wegmarken sind.

Hier wird es für Architekturschaffende besonders interessant. Eines von Latours Paradigmen besagt, dass man stets bereit sein muss, «die Lebensterrains zu definieren, wovon ein Erdverbundener für sein Überleben abhängt, und sich dann zu fragen, welche anderen Erdverbundenen von ihm abhängig sind». Das ist als Netzwerk auch global gemeint. Die erste von Latour kursiv gesetzte Forderung hat mit Ressourcen zu tun, die zweite mit Verantwortung. In die Sprache Architekturschaffender übersetzt heisst das: Sparsamkeit und Rücksicht, die alle «Erdverbundenen» miteinschliessen: Menschen natürlich, aber auch Tiere und Pflanzen – und warum nicht: auch «unbelebtes» Material wie CO₂ oder Sand.

Gelingensbedingungen schaffen

Gelingt es der Architektur, sich nach dem terrestrischen Attraktor auszurichten, so braucht sie nicht mehr Diskussionen um die Autonomie ihrer Disziplin zu führen. Wenn Architekturschaffende an erster Stelle einstehen für minimalen Ressourcenverbrauch, minimale Emissionen und grösste Rücksichtnahme, dann bleibt noch viel Raum für Ästhetik. Und auch hier stiftet Latour neuen Sinn. Denn bereits eine Buchseite nach dem erwähnten Zitat spricht er von der Erzeugung von «Gender, Rasse, Erziehung […], Ernährung, Beruf, technischer Innovation, Religion und Freizeitverhalten» – und dem hier schreibenden Architekten bleibt nur noch anzufügen: Erzeugung von Raum.

Latour braucht das Wort «Erzeugung » nahezu synonym zum griechischen Wort Poiesis, das wiederum eine vertraute Basis für Architekturschaffende bietet, um über Ästhetik zu räsonieren. Gerade Poetik versucht herauszuarbeiten, wie Dinge entstehen: nicht nur in der Literatur, woher der heutige Gebrauch des Wortes stammt, sondern auch in der Technik und eben in der Architektur: Terrestrische Poetik! Untersuchungen zur Poetik der Architektur schliessen alle Formen der Erzeugung mit ein: nicht nur Entwurf und Konstruktion, sondern auch die Herkunft, Geschichte und Zukünfte allen verwendeten Materials – sei es nun belebt, unbelebt oder geistiger Natur. Weil das Gebot der Klimaneutralität in der Argumentation von Latour zwingend auch die Ästhetik miteinschliesst, erhalten das entsprechend bewertete Schöne und somit die Architektur gesellschaftliche Bedeutung. Und, das ist entscheidend: Wertschätzung und Vorbildcharakter.

Selbst wenn es in Zukunft aus naheliegenden Gründen darum geht, möglichst auf energieintensives Reisen oder Beton als ästhetisches Ausdrucksmittel zu verzichten, so ist für die Architektur mehr gewonnen als verloren. Denn sowohl Untersuchungen zur Poetik der Architektur als auch zur Herkunft und Zukunft von Material brauchen Zeit, die honoriert werden will. Dies bedeutet unter anderem, dass entsprechend etwa Ordnungen und Leistungsbeschriebe für Architekturschaffende angepasst werden müssen. «Klimaarbeit» kostet, hier stehen nicht zuletzt die Planerverbände in der Pflicht. Gelingt es, Sorgfalt und Verantwortung richtig in die Entwurfsarbeit einzupreisen, so fände endlich eine immer wieder und in dieser Zeitschrift zuletzt von Annette Spiro und Astrid Staufer hervorgebrachte Forderung gesellschaftliche Legitimität: Das Machen von Architektur muss Zeit haben.

Greta Thunberg ist da kein schlechtes Vorbild, denn um ihre Ziele zu erreichen, scheute sie auch nicht die Mühe, den Atlantik zwei Wochen lang in einer engen Rennjacht zu überqueren. Was lokal mit einem Schulstreik in Stockholm begann, hat nun eine globale Dimension angenommen.

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