Operation im Stadtraum

Wohnhäuser an der Zoll­strasse in Zürich von Esch Sintzel Architekten

Daniel Kurz, Philip Heckhausen (Bilder)

An der Einfahrt zum Hauptbahn­hof Zürich fällt eine Reihe von Wohn­bauten ins Auge. Vor-­ und zurückschwingend nehmen sie die Bewe­gung des Bahnverkehrs auf; der Rhythmus ihrer Backsteinpfeiler ver­einbart die Massstäbe von Land­schaft und Strassenraum: eine viel­schichtige Operation im Stadtraum.

Im neu entstandenen Strassenraum fühlt sich das Publikum im Sommer 2019 sichtlich wohl. Die Bebauung vernetzt sich mit dem Quartier.
Bild: Philip Heckhausen

Traditionell besitzen städtische Häuser ein Vorne und Hinten, eine repräsentative und eine dienende Seite – Strasse und Hof. An den Bahneinfahrten vieler Städte rumpeln die Züge daher an schmucklosen Rückseiten und Brandmauern vorbei, oft kaschiert von Reklametafeln. Eine solche Hierarchie gibt es an der Zollstrasse nicht. Die neuen Häuser von Esch Sintzel Architekten kennen nur Vorderseiten – die Weite des Gleisfelds im Süden, eine schmale Quartierstrasse im Norden und eine Kopfsituation im Westen. Auf diese denkbar unterschiedlichen Massstäbe haben die Bauten eine Antwort zu geben. Sie tun es mit einer Volumetrie, die nach Süden die Bewegtheit des Gleisfelds aufnimmt und nach Norden einen geschlossenen Strassenraum schafft. Der Rhythmus kräftiger Backsteinpfeiler verbindet die unterschiedlichen Massstäbe der Umgebung.

Stadtrand wird zum Strassenraum

Durch die Neubauten von Esch Sintzel Architekten hat ein Ort, der bisher keiner war, eine atemberaubende Verwandlung erfahren. Am eindrücklichsten ist sie im Raum der Zollstrasse zu erleben: Diese grenzte bislang direkt ans Gleisfeld, einst mit einer bunten Mischung aus Wohnhäusern und kleinen Fabriken. Hier lag eine Rückseite der Stadt, eine Art Hafenquartier und Antithese zur Bahnhofstrasse, mit weitem Blickfeld zwar, aber geplagt von Rangierlärm, kreischenden Rädern und schrill pfeifenden Lokomotiven. In den frühen 1990er Jahren kündeten an der besetzten Wohlgroth-Fabrik die Maueraufschriften «Alles wird gut!» und «ZUREICH» von der bewegten Zürcher Jugend – und von der Opposition gegen das Projekt «HB Südwest»: Die Überbauung des gesamten Gleisfelds trieben SBB und Investoren jahrzehntelang voran, bis ihnen 2001 der Schnauf ausging.

Statt jenes Ungetüms, dessen Masse das Quartier erdrückt hätte, hat die Zollstrasse nun einen freundlichen Nachbarn erhalten – und damit erst zu sich selbst gefunden: Was ursprünglich eine Art Ufer war, ist nun ein geschlossener städtischer Raum geworden, eine Gasse. Die grossen Geschäftshäuser der 1980er und 90er Jahre treten dadurch ihrerseits ins Glied zurück, werden Teil der allgegenwärtigen Blockrand-Masse. Die öffentliche Nutzung der überhohen Erdgeschosse in den neuen Backsteinbauten brachte fast augenblicklich städtische Normalität an diesen Ort.

Die Struktur der Bebauung ist bis ins Detail durch einen Gestaltungsplan geregelt, dessen Grundlagen agps architecture und Atelier Girot im Studienauftrag 2011 erarbeitet haben. Sie unterteilten das langgezogene, schmale Baufeld in einzelne Körper, sodass die bestehenden Querstrassen eine Fortsetzung finden und sich Durchblicke zum Gleisfeld eröffnen; den Schienen entlang führt ein Promenadenweg.

Die Lücke zwischen den Neubauten nimmt einen bestehenden Durchgang im Quartier auf. So entsteht atmosphäri­sche Dichte.
Bild: Philip Heckhausen

Der Bestand als Massstab für das Neue

Die Gebäudehöhen orientieren sich am quartier-üblichen Massstab, und wo die Strasse etwas enger ist, rücken die Neubauten zurück und ducken sich um zwei Geschosse tiefer. Der Gestaltungsplan stellte sicher, dass die Neubauten Teil des Quartiers wurden, doch wirft er auch Fragen auf: Es scheint fast, als ob mit der Rücksichtnahme auf den Bestand übertrieben und allzu einengende Vorgaben formuliert wurden. Dass für das mittlere Haus der Wohnbebauung nur sechs statt acht Geschosse erlaubt waren, schmälert die städtebauliche Wirkung des Ganzen (vor allem in der Fernsicht über die Gleise) ebenso wie die Vorgabe eines allzu breiten Platzes in der Fortsetzung der Hafnerstrasse, der den Zusammenhang der Gebäudegruppe zerreisst.

In parallelen Wettbewerben setzten sich Esch Sintzel 2013 für die Wohnbebauung durch, während nebenan Made In aus Genf ein testosterongeladenes Projekt für ein Bürohaus realisierten, das zu den feingliedrigen Wohnhäusern eine geradezu feindselige Antithese formuliert. 2015 folgte der Wettbewerb für das weiter westlich entstehende, genossenschaftliche Projekt Zollhaus, den Enzmann Fischer gewannen.

Zu den Geleisen öffnen sich die Häuser mit einer schwingenden Bewegung; die Fassadenpfeiler sorgen für Rhythmus und Massstab.
Bild: Philip Heckhausen

Starker Stadtraum

Esch Sintzel wählten für ihre drei Wohnhäuser einen gemeinsamen Ausdruck. Und sie unterwarfen ihr Volumen auf der Seite der Gleise einer kräftigen, stadtauswärts stetig anschwellenden Bewegung, die an das schwungvolle Aufwerfen eines Fächers erinnert: ein Bild für die Beschleunigung der Züge, die hier am Ausgang des Bahnhofs Fahrt aufnehmen, nur wenige Schritte von den Häusern entfernt. Die tiefen Einschnitte bringen Tageslicht und Sichtverbindungen in die Wohnungen und lassen im Aussenraum Nischen entstehen.

Für Stabilität und Rhythmus, auch im Ausdruck, sorgen die stämmigen, bis zur Dachkante durchlaufenden Backsteinpfeiler. Im Raum der Strasse zeigt die Überbauung eine disziplinierte Bewegtheit, die durch schräg auskragende Erker, abgeschrägte Eckfassaden, einen beachtlichen Rücksprung in der Mitte sowie zwei ganz unterschiedlich dimensionierte Zwischenräume entsteht. Diese Variation wirkt wie ein Echo auf die gleisseitige Bewegung. Sie vernetzt das Neue mit dem Bestand, aktiviert den Raum und verschafft den Wohnungen Ausblicke in die Strasse. Spannend sind die subtilen Abweichungen vom Gleichmass der Pfeiler, die an den Gebäudeecken entstehen, wo sich parallele und schräge Flächen schneiden und überlagern.

Blickbezüge über Eck fördern die Vernetzung mit dem Quartier und lassen trotz Nähe keine Enge entstehen.
Bild: Philip Heckhausen

Die Pfeiler binden die offenen Arkaden im Erdgeschoss in den Zusammenhang der Fassade ein. Holzelemente mit Fenstern, teilweise auch schmale Balkone füllen die Felder zwischen den Pfeilern; gewelltes Aluminium und das dunkelrot gestrichene Netz aus Balkonbrüstungen und Storenführungen bilden darüber ein feingliedriges Relief. Die hohen Erdgeschosse sind für öffentliche Nutzungen wie Läden und ein Restaurant reserviert. Erst auf den zweiten Blick fallen in rückwärtigen Bereichen lichtdurchlässige Backsteingitter auf, die an manchen Stellen die Anlagen der Gebäudetechnik verdecken, an anderen, wie im Restaurant, Licht in die hohen Parterreräume bringen.

Neue Freiräume und eine Uferpromenade

Es sind jedoch nicht nur neue Häuser entstanden, sondern vor allem auch neue Räume. Von der Veränderung des Strassenraums war die Rede, aber noch nicht von den schmalen und breiten Lücken zwischen den Häusern: Durch sie entstehen ganz erstaunliche Räume, bezogen auf die Weite des Gleisfelds. Im einen Fall dramatisch komprimiert, im anderen übermässig breit: Die platzartige öffentliche Anlage setzt eine Querstrasse bis zu den Gleisen fort, ein romantischer Zierbrunnen schmückt sie. Steile Stufen führen hinauf zu einer oberen Ebene, die freie Sicht aufs Gleisfeld und die Türme der Europaallee bietet. Ihre Hochlage ist vom Bahntunnel zum S-Bahnhof Museumstrasse bestimmt, der hier aus dem Untergrund auftaucht. Der Platz vereinigt sich mit der Uferpromenade am Gleis, einem Bestandteil des städtebaulichen Konzepts von agps und Girot. Sie verspricht Sonnenhungrigen einen Spazierweg mit Aussicht, im Westen mündet sie in den Negrellisteg, der nach seiner Fertigstellung im Herbst 2020 das Gleisfeld überbrücken wird.

Wer die Häuser betritt, wird von hohen Eingangshallen überrascht, die als eigentlicher Weg im Zickzack in die Tiefe des Gebäudes führen, erhellt von Deckenleuchten in goldfarbener, runder Vertiefung. Terrazzoplatten mit gelben, roten, hellgrauen Steinen erinnern an die Farben des Äusseren. Elegante Treppen führen nach oben, – man käme gar nicht auf den Gedanken, den Lift zu nehmen: «Das Haus als Weg und Platz».1

Der Wechsel von Pfeilern und Holzelementen zeichnet sich vor dem Panorama auch im Inneren als fein gearbeitetes Relief ab.
Bild: Philip Heckhausen

Wohnung als Landschaft

Diese Architektur der Bewegung prägt auch die Wohnungen selbst, die schon aufgrund der organischen Gebäudegrundrisse eine grosse Vielfalt aufweisen, wobei zwei Grundtypen variiert werden. Da gibt es einerseits die einseitig nach Süden orientierte Wohnung, die sich zum Gleis hin auffächert: Schon vom zentralen Entrée aus bietet dieser Typ weite Ausblicke über das Gleisfeld; die Räume sind unter sich gleichwertig und zum Teil über die Loggia verbunden. Wer hier wohnt, nimmt intensiv am Geschehen im Vorbahnhof Teil. Häufiger sind Wohnungen, die quer vom Gleis zur Strasse spannen, und die man durch eine mäandrierende Eingangssequenz in der dunklen Tiefe der Gebäudemitte betritt. Ecksituationen bringen weitere, attraktive Varianten hervor. Allen Typen ist gemeinsam, dass ihre Räume und inneren Geometrien nichts Zufälliges an sich haben: Die alltäglichen Wege sind bewusst geführt und proportioniert, die Ausblicke erschliessen sich in der Bewegung. Nichts ist zu spüren von der Leere und den undefinierten Flächen, wie man sie in anderen neuen Grosswohnungen so oft antrifft.

An dieser zentralen und attraktiven Lage haben die SBB als Eigentümerschaft nicht auf preiswerten Wohnungsbau gesetzt. Die Mieten liegen hoch (die preiswerte Alternative entsteht nebenan im genossenschaftlichen «Zollhaus»). Die Qualität der neuen Bebauung liegt in ihrem Beitrag zur atmosphärischen und funktionalen Dichte im Quartier. Ihre Ausnützungsziffer ist mit 257 Prozent nicht exorbitant und liegt eher unter dem Durchschnitt der historischen Blockrandbebauung im oberen Kreis 5. Dichte in einem positiven Sinn entstand hier weniger durch die Masse des Gebauten als durch die intensive Vernetzung des neuen Stadtbaustein mit dem bestehenden Quartier, von dem er selbst ein Teil geworden ist und das er seinerseits in eine neue Schwingung versetzt.

1 Vgl. Josef Frank, Das Haus als Weg und Platz, in: Der Baumeister, 8–1931, S.316–323.

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