Bei den aktuellen Bauten in diesem Heft geht die Gleichung zwischen Tragwerk und Raum auf überzeugende Weise auf. Über die Bestandesaufnahme hinaus sind zwei Aspekte charakteristisch. Da ist zum einen die Struktur selbst, die mit zunehmender Virtuosität zum Sprechen gebracht wird – Stichwort «Tektonik» –, und da ist zum anderen auch ein verhaltener Klassizismus, der bei den präsentierten Bauten ausnahmslos mitschwingt. Beides fügt sich für uns in einen Begriff der «Haut- und Knochenarchitektur», der gemeinhin Mies van der Rohe zugeschrieben wird, seine geistesgeschichtliche Herkunft aber im 19. Jahrhundert hat. Die Tragstruktur ist hier – mit Vorliebe aus Beton – die ordnende Instanz, die sozusagen für die Architekturhaftigkeit der Architektur sorgt, weitab von einer Diskussion um Referenzen oder Bilder. Ebenso wie diese hat die «Poetik der Tragstruktur» das Zeug zu einem Stil in der Architektur, und es ist sicher nicht falsch, wenn man erneut von einem «Ingenieur-Stil» oder zumindest von einem «Struktur-Stil» sprechen würde, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit hinzieht. Dem bei den vorgestellten Bauten mitschwingenden Essenzialismus (What you see is what you get) fällt dabei der Part der kraftvollen Erzählung zu, die je nach Zeitgeist mit weiteren Inhalten wie Fortschritt, Flexibilität, Konnektivität, Gemeinschaft oder Tradition angereichert werden kann.
Knochen als Bindeglied der Wissenschaften: Im späten 19. Jahrhundert bezog die Graphische Statik von Karl Culmann ebenso unmittelbare Anregungen aus der zeitgenössischen anatomischen Forschung wie die Architekturtheorie von Viollet-le-Duc – und sie wirkte ihrerseits ganz direkt auf die medizinische Theoriebildung zurück.
Der mehrfach preisgekrönte Bau von Muoto im Campus Paris-Saclay soll als Public Condenser die umgebenden Hochschulbauten mittels ergänzender Raumangebote vernetzen. Die jungen Architekten stapelten das heterogene Programm mit Sport und Gastronomie zu einem ikonisch anmutenden Monument. Mit einem minimalen Budget entstand ein Bau, in dem die Tragstruktur aus Beton auch das Raumgefühl bestimmt. Sie kontrastiert mit leichten, gläsernen Ausbauten und offenen Bereichen, doch die Widersprüche finden zu einer überzeugenden Einheit. Zeigen sich hier die Ansätze zu einer neuen französischen Architektur nach French Touch und Lacaton Vassal?
Das Tragwerk bildet den Raum: Um im Schulhaus Linden in Niederhasli ZH ein stützenfreies Inneres zu ermöglichen, hat Jürg Graser die massiven Fensterbrüstungen wie auch die inneren Unterzüge über die ganze Länge des Hauses vorgespannt und die Konstruktion grosser Industriehallen auf eine viel kleinere Typologie übertragen. Die Raumschichten beidseits der zentralen Treppenhalle bleiben so frei einteilbar – und das Tragwerk prägt unmittelbar den Raum.
Offene Raumfluchten auf gestaffelten Niveaus bieten im Start-up-Labor der Firma Nolax in Sempach die Bühne für innovative Entwicklungsarbeit. Die Architektur von Luca Deon unterstützt diese Offenheit durch ein allgegenwärtiges komposites Tragwerk: Filigrane Betondecken liegen hier auf sichtbaren Holzbalken, in Gruppen angeordnete Stützen und versteifende Wände gliedern den fliessenden Raum. Das Zusammenspiel von Struktur und Tektonik sorgt dafür, dass die Wirkung von Tragen und Lasten «mit Leichtigkeit» über die gewohnte Wahrnehmung des Tragwerks hinausgeht.
In das historische Ensemble des St. Galler Stickereiquartiers fügten Corinna Menn und Mark Ammann einen Neubau, der sich äusserlich den prominenten Nachbarn unterordnet. Spektakulär sind seine Innenräume: Das elegante Faltwerk der Betondecken ermöglicht stützenfreie, offene Arbeitsräume und erzeugt deren charakteristische Stimmung.
« ... Einzig und allein [mit] Säule, Gebälk und Giebel wird echte Vollkommenheit erreicht» – schon Marc-Antoine Laugier definierte 1753 das Klassische in der Architektur über das unmittelbare Zutagetreten der Tragstruktur. Bis heute hat «Knochenarchitektur», die in der Sichtbarkeit des Tragwerks nach Wahrheit des Ausdrucks sucht, einen klassischen Anspruch. Ein architekturtheoretischer Spaziergang.
Im Schatten von Donald Trump haben sich Europas Kulturminister am diesjährigen WEF in einer Davos Declaration der Baukultur verpflichet. Angezeigt wäre in deren Sinne jetzt auch eine Grundsatzdiskussion über technische Normen.
«Die überlieferte materielle Substanz des Denkmals ist unbestechlich und kann immer wieder neu befragt werden»: Der Denkmalexperte Bernhard Furrer nimmt Stellung gegen die Überlegungen zur «ideellen Substanz» von Stephan Buchhofer in wbw 10 – 2017.
Nach den KBOB-Empfehlungen hat sich die Eidgenössische Wettbewerbskommission die Lohn- und Honorarordnung des SIA vorgenommen: Doch die Abschaffung ihrer Empfehlungen wäre nicht im Interesse der Auftraggeber.
Warum sind die Proportionen seit Le Corbusier aus dem Architekturdiskurs verschwunden? Eine neue Publikation frischt Wissen auf und gibt erhellende Einblicke in die praktische Arbeit mit klassischen Ordnungen. Und bei Birkhäuser sind ein sinnliches und ein gewichtiges Buch zur Geschichte der Landschaftsarchitektur erschienen.
Hans Danuser hat mit Blumen für Andrea in der Villa Garbald in Castasegna ein ebenso vielschichtiges wie berührendes Spiel um Räume und Blumen geschaffen. Und in Form folgt Paragraph forscht das AzW in Wien nach den Spielräumen, die Normen und Paragraphen für innovative Architektur noch frei lassen.
110 Habitaciones – 110 Zimmer nennt das junge Architektenkollektiv MAIO das städtische Wohnhaus in Barcelona. Rätselhafte Symbole bilden den Kern einer szenografischen Erzählung – mit Anklängen an den katalanischen Modernisme um 1900.
Originaltext Spanisch
Anders als andere Prestigeprojekte der Golfmetropole bemühte sich Jean Nouvel für den Museumsbau des Louvre Abu Dhabi um eine Auseinandersetzung mit dem Ort. Entstanden ist ein Archipel von Museumsräumen im Schatten einer komplex aufgebauten Kuppel.