5 – 2018

Tessin

Infrastruktur, Territorium, Architektur

«Unser erster Blick richtet sich immer auf das Territorio.» Die Aussage könnte von den Exponenten jener Tendenza stammen, welche Tessiner Architektur in den 1970er und 80er Jahren international bekannt machten, oder von Vertretern der jungen Generation Architekturschaffender im Südkanton. Doch sie steht im Leitbild eines Immobilienentwicklers. Das Unternehmen ist innert weniger Jahre zu einem der grossen Player aufgestiegen, welche den Tessiner Hochbaumarkt heute dominieren – und von Kritikern gerne für die uferlose Zersiedelung der Landschaft und den Verlust an Baukultur mit verantwortlich gemacht werden. Im Wort Territorium schwingen immer auch Fragen nach Besitz, Macht und Herrschaft über die Landschaft mit. Ist der moderne Diskurs über das Territorio dadurch schon obsolet geworden, dass er auch zur Rechtfertigung kommerzieller Interessen genutzt wird? Wir glauben: nein. Es ist gerade jetzt wichtig, dass sich möglichst viele der an den politischen, wirtschaftlichen und baulichen Prozessen Beteiligten über das gemeinsame Interesse an Qualität, Würde und Schönheit von Siedlung und Landschaft verständigen. Denn der südliche Landesteil befindet sich mitten in einem so tiefgreifenden Wandel, dass entschlossenes Handeln not tut, um eine historische Chance nicht zu verpassen: Mit den neuen Basistunnels durch den Gotthard und den Monte Ceneri rückt das Tessin näher an die Deutschschweiz und an Mailand – aber auch seine Kantonsteile rücken enger zusammen. Bedingt durch die landschaftliche Enge und die Begrenztheit des bebaubaren Bodens ist die Landschaft im Tessin besonders fragil – und bietet sich gleichzeitig eine äusserst vielversprechende Ausgangslage, um das Territorio zu «beherrschen», neu zu denken und zu gestalten. Wir hoffen, mit diesem Heft dazu beizutragen, dass daüber ein Common Ground entsteht, auf dem das Tessin eine neue städtebauliche Identität findet.

Capolago, Tessin
© Gian Paolo Minelli

Die harte Tour

Gian Paolo Minelli (Bilder)

Der vielfach preisgekrönte Tessiner Fotograf Gian Paolo Minelli fokussiert auf seinen Erkundungstouren die unschöne Alltagsrealität im Kanton, an der Touristen ebenso wie Einheimische gern vorbeischauen. Seine Bilder zeigen keine Palmen oder Rebberge, keine Madonna del Sasso, keine Kastanienhaine oder Bergdörfer und auch keine stillen Alpweiden. Gian Paolo Minelli ist dort unterwegs, wo das Territorium geldwertes Bauland geworden oder zum schmalen Vorgarten hinter wehrhaften Lorbeerhecken geschrumpft ist. Er geht nahe an die Dinge heran, analysiert mit präzisem Blick bauliche Kollisionen, lieblos hinterlassene Resträume und verletzte Landschaften. Mit dem Ernst des Forschers sammelt er Tatbestände – und lässt aus ihnen Bilder von grosser ästhetischer Kraft entstehen. Minelli hat die Bildstrecken zu diesem Heft fotografiert.

Mendrisio, Tessin
© Gian Paolo Minelli

Architektur in der Isolation

Berufsstand und Baukultur im Tessin

Alberto Caruso

Alberto Caruso legt den Finger auf die Wunden der Tessiner Architektenexistenz: Schon der Erfolg der Tessiner Tendenza beruhte primär auf der Bauaufgabe des Einfamilienhauses. Dieses füllt auch heute die Auftragsbücher der Architekturschaffenden, zugleich repräsentiert es das urbanistische Kernproblem, die Zersiedlung. Derweil hat sich der Immobilienmarkt von der Architektur entfremdet, und es ist ein «doppelter Markt» entstanden: je einer für die Kultivierten und einer für die Opportunisten.
Originaltext Italienisch

Mendrisio, Tessin
© Gian Paolo Minelli

Chancen für die Città Ticino

Das Tessin sucht eine Vision

Rico Maggi und Felix Wettstein

Ökonom und Architekt sind sich einig: AlpTransit Gotthard und die neue Tessiner S-Bahn versprechen dem Kanton einen neuen Boom. In ihrem Gespräch unterhalten sie sich über die Eigenheiten des Tessins, verpasste Chancen und anstehende Herausforderungen. Gemeindefusionen können dazu beitragen, dass das Kirchturmdenken aufhöre, hofft Maggi. Eine neue Vision müsse zu kollektivem Handeln führen.

Mendrisio, Tessin
© Gian Paolo Minelli

Es braucht das Engagement aller

Raumplanung im Tessin

Michele Arnaboldi, Ivo Durisch, Riccardo De Gottardi und Ludovica Molo im Gespräch mit Tibor Joanelly und Daniel Kurz

Wird das Tessin mit den neuen Bahninfrastrukturen zur Città Ticino? Wie lassen sich in den stark beanspruchten Talböden landschaftliche Freiräume erhalten? Wie wird die Verdichtung gestaltet? Und warum entstehen grosse Planungen oft ohne Wettbewerb? Planer, Architekturschaffende und ein Politiker debattieren über die Planung im Kanton.

Tessin-Karte

Aktuelle Bauten und Projekte

Ein Architekturführer in Kurzform – auch online zu finden

Umbau Bahnhof Lugano von Lorenzo Felder und Gruppo Stazlu.
Bild: Marcelo Villada Ortiz

Die Entknotung der Stadt

Umbau Bahnhof Lugano von Lorenzo Felder, Gruppo Stazlu

Piazza Grande in Riva San Vitale von Planidea.
Bilder: Jurij Bardelli

Vorrang für den Ort

Piazza Grande in Riva San Vitale von Planidea

Dynamische Wellenform: Die Sporthalle des Schulzentrums Nosedo von Durisch Nolli / Giraudi Radczuweit.
Bild: Tonatiuh Ambrosetti

Dynamik der Welle

Schulzentrum Nosedo in Massagno von Durisch Nolli / Giraudi Radczuweit

Palazzo del Cinema in Locarno von Alejandro Zaera-Polo & Maider Llaguno
Bild: Giorgio Marafioti

Goldener Leopard

Palazzo del Cinema in Locarno von AZPML

Teatro dell’architettura in Mendrisio von Mario Botta

Schillerndes Panorama

Teatro dell’architettura in Mendrisio von Mario Botta

Wohngebäude in Lugano von Studio Meyer e Piattini.
Bild: Paolo Rosselli

Gute Nachbarschaft

Wohnhaus in Lugano von Studio Meyer e Piattini

Cà da paes in Aurigeno von Francesco Buzzi.
Bild: Roberto Conte

Territorio im Kleinsten

Wohnhaus in Aurigeno von Buzzi Studio di architettura

Steinbruch Cave di Arzo von Enrico Sassi
Bild: Marcelo Villada

Denkmal für den Stein

Cave di Arzo von Enrico Sassi

Anzeige

Debatte

Nachdem Caspar Schärer im Heft 4–2018 zu unvoreingenommener Neugier auf die Agglomeration eingeladen hat, spielen Reto Pfenninger und Barbara Lenherr den Ball weiter. Ihre Strategie: Low Rise und moderate Dichte. Ihre Forschung an der FHNW zeigt konkrete Wege auf.

Wettbewerb

Vor drei Jahren konnte im Garten der Schweizer Botschaft in Algier ein neues Kanzleigebäude von Bakker Blanc Architekten eingeweiht werden. Nun muss die Villa einem Neubau weichen.
Lütjens Padmanabhan haben den Wettbewerb gewonnen, Hubertus Adam deutet die Zeichen.

Nachruf

Robert Obrist, 1937 – 2018
Peter Bosshard, 1942 – 2018

Ausstellungen

Die Fotos von Klaus Kinold sind so legendär wie seine Sujets: Bauten von Mies van der Rohe und Rudolf Schwarz. In Innsbruck hängt derzeit eine Auswahl der Kinoldschen Ikonen in einer Ausstellung, Ekkehard Drach hat sie in den Blick gefasst.

Kolumne

Architektur ist … Irgendwo da drin

Daniel Klos, Johanna Benz (Illustration)

Objets trouvés aus dem Brockenhaus, ein espace trouvé, den keiner wollte und architecture with out architects sind die Zutaten des Spiels, das unser Kolumnist ausprobiert hat.

Studentenwohnhaus in Paris von Eric Lapierre
Bild: Filip Dujardin

In der Schräge

Studentenwohnhaus in Paris von Eric Lapierre

Roland Züger, Filip Dujardin (Bilder)

Eine Busgarage wurde zum Grundstück für ein Studentenwohnhaus. Sein Architekt Eric Lapierre schmuggelte dank einem Kniff Gemeinschaftsräume zwischen die Wohnzellen.

Das Ensemble Chadwick Hall liegt in direkter Verlängerung des Landschaftsparks der 1959 erbauten modernistischen Wohnblöcke des Alton West Estate. Bild: Nick Kane

Die feine englische Art

Studentenwohnungen in Cambridge von 6A und von Henley Halebrown in London

Rosamund Diamond

Zwei Wohnbauten für Studierende im historischen Kontext: Cowan Court ist eine Erweiterung des Churchill College in Cambridge von 6A architects, die Chadwick Hall der Universität Roehampton in London eine Ergänzung von Henley Halebrown.
Originaltext Englisch

Tagesstätte der Stiftung Weidli Stans NW von plus architekten ag
Bild: Christian Hartmann

werk-material 08.01 / 712

Das befahrbare Haus

Gerold Kunz, Christian Hartmann (Bilder)

Tagesstätte Stiftung Weidli in Stans von plus Architekten

Heilpädagogisches Zentrum Glarnerland, Oberurnen GL von ARGE HPZ und AMJGS Architektur. Bild: Martin Stollenwerk

werk-material 08.01 / 713

Subtile Referenzen

Fabian Ruppanner, Martin Stollenwerk (Bilder)

Heilpädagogisches Zentrum Glarnerland Oberurnen von AMJGS Architektur und Bienert Kintat Architekten

Lesen Sie werk, bauen + wohnen im Abo und verpassen Sie keine Ausgabe oder bestellen Sie diese Einzelausgabe