Frische Ideen zum Bauen im Klimawandel

Die Folgen der Klimaerhitzung sind ernst, auch das wurde an der öffentlichen BSA-Tagung am 8. Oktober im Luzerner Schweizerhof deutlich. Vor allem aber zeigte das superdichte, von Caspar Schärer und Ludovica Molo zusammengestellte Programm, wie sehr sich die Diskussion entwickelt hat, wieviel Motivation und Engagement darin einfliesst, und wie breit und vielfältig die Ansätze zum Thema heute sind. Junge Architekturschaffende (zB von Countdown 2030) wetteiferten dabei mit erfahrenen Kollegen (Roger Boltshauser, Heinrich Degelo ua) mit innovativen konstruktiven Ansätzen, die mehr als noch vor wenigen Jahren von einer ganzheitlichen 360°-Betrachtung und vom Kreislauf-Gedanken geprägt sind. Eine zentrale Rolle spielt heute der CO2-Eintrag der Erstellung (56% der Gebäudeemission im Lebenszyklus) – Konstruktion und Materialwahl wie die Bauprogramme müssen daher neu gedacht werden – eine grosse Chance für innovatives Planen und damit für natürliche Baustoffe wie Holz, Hanf oder Lehm!

Schon im Einleitungsreferat stellte der «oberste Architekt Europas» der Präsident des Architect’s Council of Europe Georg Pendl (Innsbruck) klar, dass es heute um sehr viel mehr geht als um künstliche «Beatmung» und Dämmung von Gebäuden. Mit dem ACE (dem auch die Schweiz angehört) kämpft er für die Betonung der Baukultur und für einen holistischen Ansatz in den Nachhaltigkeitsprogrammen der EU – denn nur gute Architektur ist auch nachhaltig – und nur leistbare Architektur ist auch sozial vertretbar. Mit der «Klimaoffensive Baukultur» konnte Heimatschutz-Geschäftsführer Stefan Kunz hier nahtlos anknüpfen. Statt «immer nur mit dem Rücken zur Wand» Denkmäler zu verteidigen, sind die Bewahrer in die Offensive gegangen. Respekt für den Bestand – auch wo dieser nicht schutzwürdig ist – trägt am meisten zur Vermeidung von Emissionen bei. Gefragt ist eine neue, kulturell wie klimatisch nachhaltige «Umbaukultur» anstelle der Tabula Rasa. Die «Klimaoffensive» sammelt dazu Best-Practice-Beispiele und ruft alle Architekturschaffenden auf, ihre besten Projekte anzumelden.

Die Beiträge aus der aktuellen Forschung machten den Ernst der Lage noch deutlicher: Mendrisio-Professor Sascha Roesler spitzte seine internationalen Forschungen zum Stadtklima auf den Punkt zu: «Klimaanpassung ist fast immer auch Klimaschutz – und umgekehrt.» Im Sinn einer Folgenabschätzung lässt er die Lebensbedinungungen in einem künftigen «Subtropical Vienna» erforschen und fordert dazu auf, im architektonischen Denken die «Dichotomie von Innen- und Aussenklima» aufzugeben. Bei einer Erneuerungsrate von 1.5% des Bestands, rechnete der Konstruktions-Forscher Daniel Studer (BUK ETH) vor, ist der Klimawandel auf der Gebäudeseite nicht zu schaffen, zumal nur ein kleiner Teil davon klimarelevante Verbesserungen bringt. «2050 ist heute!», bedeutet dies. Kein Umbau darf heute mehr ohne wesentlichen Beitrag geplant werden. Studer zeigte spannende Best-Practice-Beispiele und stellt fest, dass die Berührungsängste der Architektinnen und Architekten gegenüber klimagerechtem und solarem Bauen sehr schnell schwinden, doch er warnt: Wenn wir mit Ersatzneubau den Flächenverbrauch fördern und im periurbanen Raum neu bauen, statt die Stadt zu verdichten, sind wir auf dem falschen Weg. Auch die Beton-Forscherin Karen Scrivener vom Construction Material Lab der EPFL machte Illusionen zunichte: Der Bedarf nach Beton wird weltweit in jedem Fall sehr stark wachsen, und kein anderes Material kann ihn im grossen Massstab ersetzen. Und da bei der Zementherstellung 60% der Treibhausgase nicht durch die Öfen, sondern durch den chemischen Prozess selbst freigesetzt werden, sind die Sparpotenziale beim Beton begrenzt. Nur eine straffe Bewirtschaftung entlang der gesamten Produktionskette (Reduktion von Neubauvolumen, Betonanteil, Zementanteil im Beton, Klinkeranteil im Zement usw) lassen sich relevante Einsparungen erzielen – und mit der Umstellung von Kalkstein auf kalkhaltige Lehme (calcined clay) in der Zementproduktion: Mit CEM3-Beton könnte so künftig bis zu 40% CO2 eingespart werden. Das weltweite Potenzial dafür beträgt 400 Mio Tonnen – das Hundertfache des gesamten CO2-Ausstosses der Schweiz.

Den Massstab des Raums, des Territoriums und der Gesellschaft öffnete Laurent Guidetti mit einem fulminanten Plädoyer und einschüchternden Zahlen – zum Beispiel: nur 4% aller Säugetiere auf der Welt sind wildlebende Tiere, 60% sind Nutztiere, 36% wir Menschen. Oder: 42% der in der Schweiz verursachten Treibhausgase stammen von importierten Produkten, 20% von grenzüberschreitender Mobilität – nur 38% lassen sich im Land selbst vermeiden, und doch müssen wir bis 2050 96% davon einsparen. Oder: 87% des öffentlichen Raums steht in Schweizer Städten als Parkplatz oder Fahrbahn exklusiv dem motorisierten Individualverkehr zur Verfügung. Und so weiter. Die Klimaerhitzung lässt sich allein mit dem «wie» nicht beantworten, es geht auch um das «wie viel» – um Suffizienz.

Mit dem «Plan Hitzeminderung» zeigten die Städtebau- und Gründirektorinnen der Stadt Zürich, dass nur interdisziplinäres, strategisch aufgebautes Denken und Handeln die Situation in den Städten rechtzeitig verbessern kann. Mit der «Consultation Grand-Genève» schliesslich hat die Fondation Braillard zusammen mit dem Kanton Genf die gedanklichen Grenzen planerischen Handelns im beengten Grenzkanton nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich und inhaltlich stark erweitert und fördert so einen ganzheitlichen Ansatz bei der Erarbeitung des neuen Richtplans – der die Klimaerhitzung in hohem Mass zu antizipieren hat.

Nach sechs Stunden mag so manchen Teilnehmenden ab so viel Input der Kopf gebrummt haben. Aber jeder und jedem war klar: Allein kann ich die Welt nicht retten – aber besteht kein Mangel an Möglichkeiten, zur Verbesserung beizutragen. Wie spannend und lustvoll das sein kann, das ist die vielleicht bedeutendste Botschaft dieser Tagung des BSA. Ihre Resultate wird der BSA im Herbst 2022 in einem weiteren Band der werk, edition publizieren.

— Daniel Kurz

Publikationen zum Thema:

Laurent Guidetti,Tribu architecture
Manifeste pour une revolution territorial
Espazium, Januar 2021
168 Seiten (französisch), CHF 24.–

Materialkreislauf, wbw 5–2021
Für das Klima, wbw 3–2020

Zur Tagung:

Die BSA-Tagung ist öffentlich und findet jährlich statt. Informationen dazu findet sich auf bsa-fas.ch

© Priska Ketterer
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Impressionen der BSA-Tagung 2021