Stadt – Nicht-Stadt Schweiz: Ein fiktives Gespräch

Jacques Herzog

Jacques Herzog thematisiert in einem fiktiven Gespräch die Schweiz nach der Abstimmung über Masseneinwanderungsinitiative, die das Land spaltete: Als Folge der starken Zuwanderung war in den letzten Jahren ein erhöhter Siedlungsdruck auf alle städtischen Typologien feststellbar: auf die Stadt, auf die Agglomeration und auf das Dorf. Abstimmungsanalysen zeigten, dass das knappe Ja zur Annahme der Initiative nur möglich war, weil in den Agglomerationen eine konservative, migrationskritische Mehrheit heranwächst. Jacques Herzog lässt als fiktive Gesprächspartner einen Stadtund einen Nicht-Stadt-Bewohner (den er «Agglo» nennt) gegeneinander antreten, um so Argumente, Scheinargumente, Vorurteile, Klischees, Lösungsansätze und Ausweglosigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die urbanen Entwicklungsszenarien der Schweiz werden – wie aus diesem Gespräch hervorgeht – nicht so sehr aus Visionen geboren, sondern aufgrund von Leidensdruck durch Kompromisse erstritten. Der Wille der Willensnation Schweiz ist ein Wille zur Abgrenzung – nicht zur Zusammenarbeit, die eine Grundvoraussetzung wäre für Urbanität.

Nicht-Stadtbewohner (Agglo): Wir Bewohner in den Agglomerationen und Dörfern haben den Dichtestress satt! Wir haben zu viel Verkehrsstau, zu wenig Platz im Zug und im Tram, und dann steigen die Mieten auch noch überproportional. Es wird zu viel gebaut: Verdichtung, wohin man schaut. Die schöne Wiese vis-à-vis wird einfach zugebaut. Das mag in der Stadt in Ordnung sein, aber nicht hier auf dem Land. Die Bevölkerung wächst und wächst, vor allem durch Zuwanderung und Menschen, die sich an unserem Gemeinwesen hier gar nicht beteiligen wollen oder können, weil sie unsere Sprache nicht sprechen.

Stadtbewohner: Aber wir brauchen diese Menschen doch, um unsere Wirtschaft in Schwung zu halten!

Agglo: Aber doch nicht auch noch ihre Familien samt Onkel und Grossmutter ...

Stadt: Zugezogene Menschen haben seit jeher das Leben einer Stadt bereichert – und zwar wirtschaftlich wie kulturell. Das Nebeneinander von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lebensformen auf engem Raum könnte man beinahe als Grundvoraussetzung einer funktionierenden Urbanität definieren. Die befruchtende Wirkung dieses urbanen Nebeneinanders beschrieb der französische Stadttheoretiker Henri Lefèbvre mit dem Begriff der «Differenz».

Agglo: Für eine Stadt mag das angehen, weil es da schon immer Ausländerquartiere gab, wo die unterschiedlichen Lebensauffassungen gelebt werden konnten, ohne dass man sich dabei in die Quere kam. In unseren Agglomerationen und Dörfern geht das nicht. Da kennt man sich noch, und je mehr nun verdichtet wird, desto anonymer wird hier das Leben. Das wird dann ja schon fast wie in der Stadt!

Stadt: Das wäre ja das beste Argument, die Agglomerationen weiter zu verdichten. Statt der angeschwollenen Dörfer könnten richtige Quartiere entstehen, mit Plätzen, Strassen und Gassen ...

Agglo: Dann geht aber unsere Identität als Dorf verloren und der Bezug zur Natur.

Stadt: Im Gegenteil: So entsteht erst Identität. Die städtischen Quartiere tragen Namen: St. Johann, Matthäus, Paulus in Basel, Enge, Seefeld in Zürich, Matte oder Kirchenfeld in Bern. Quartiere tragen Namen, die jeder kennt und mit denen er klare Bilder verbindet. Sie sind Teil einer Stadt mit einer spezifischen Identität, während ehemalige Dörfer wie Riehen, Oberwil, Birsfelden, Dietikon, Wettingen oder Ostermundigen um ihre Identität ringen und nicht wissen, wer sie sind und wohin sie gehören.

Agglo: Sie gehören aufs Land und sicher nicht zur Stadt mit ihrer arroganten Haltung gegenüber denjenigen, die anders denken und sich zum Land und zur Idee der Heimat bekennen!

Stadt: Zu welchem Land? Das Land verschwindet ja in erschreckender Weise, weil durch die lockere Streubauweise in den sogenannten «Landgemeinden» alles zugebaut wird.

Agglo: Etwas mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt in Agglomerationen und Dörfern und ist zufrieden mit dieser Streubauweise. Bei uns gibt es noch Natur und nachbarliches Leben.

Stadt: Es gibt auch in der Stadt Natur und nachbarliches Leben! Es gibt grossartige Parks, in denen sich die Menschen begegnen, wenn sie das wollen. Es gibt Alleen, Promenaden entlang des Sees, des Rheins oder der Aare. Ausserdem gibt es stadtnahe Wälder und Hügel. Leider werden diese natürlichen Erholungsräume immer mehr beschnitten. Der Grund ist die mangelnde Bebauungsdichte und der daraus resultierende übergrosse Flächenbedarf.

Agglo: Die Menschen wollen aber so leben; Sie wollen in der Natur aufwachsen. Das entspricht dem schweizerischen Selbstverständnis und unserer bäuerlichen Tradition. Die Schweiz hat genug Land und Natur, wenn wir nicht mehr und mehr Menschen in unser Land hineinlassen.

Stadt: Das sieht die Mehrheit der Bevölkerung aber anders, wie man bei der Abstimmung zur Zweitwohnungsinitiative beobachten konnte. Die Schweizer sind besorgt um ihre Landressourcen.

Agglo: Aber schaut Euch doch die Dörfer in den Bergregionen an, die nun von dieser Initiative betroffen sind! Dort gehen Arbeitsplätze in Bauwirtschaft und Tourismus verloren. Das ganze lokale Gewerbe leidet, weil die Städter aus ihrer nostalgischen Sehnsucht nach unberührter Natur diese Initiative durchdrückten.

Stadt: Das ist doch aber eine verkehrte Welt! Einerseits wendet Ihr Euch gegen die Stadt, weil Ihr das Ländliche dem Städtischen vorzieht – aber wenn es darum geht, dieses Ländliche auch für eine kommende Generation zu erhalten, wollt Ihr davon nichts wissen und fordert das Recht und die Freiheit, weiter in die Landschaft hinaus zu bauen.

Agglo: Das hat tatsächlich mit anderen Vorstellungen über Recht und Freiheit zu tun. Es geht doch nicht, dass Basler und Zürcher den Wallisern sagen, ob sie in ihrem eigenen Kanton bauen dürfen oder nicht. Jede Gemeinde ist autonom und kann über ihr Territorium selbst bestimmen. Deshalb sind auch Gemeindefusionen problematisch, weil dabei immer ein Stück Unabhängigkeit und Identität preisgegeben wird. Über Kantonsfusionen müssen wir schon gar nicht reden.

Stadt: Es scheint tatsächlich so, als dürfe man nicht einmal darüber reden, geschweige denn Simulationsstudien in Auftrag geben über Vor-und Nachteile einer Kantonsfusion. Das beste Beispiel ist der Kanton Baselland.

Agglo: Wieso Geld für teure Studien ausgeben, wenn eh klar ist, dass eine Fusion nicht erwünscht ist? Wollen wir riskieren, dass die bürgerliche Landschaft von der rot-grünen Politik der Stadt über den Tisch gezogen wird? Nein! Wollen wir höhere Verwaltungskosten durch mehr Administration? Nein! Wollen wir unsere ländliche Identität aufgeben? Nein!

Stadt: Da kommt aber viel Ablehnung, die bei genauer Betrachtung nicht haltbar ist. Der Landkanton ist bevölkerungsreicher, wird also auch in einem fusionierten Kanton bei Abstimmungen mehr politisches Gewicht in die Waagschale werfen können. Ein Kanton ist administrativ zunächst mal viel schlanker aufgestellt als zwei Halbkantone. Das Problem ist wohl eher, dass zahlreiche Beamte und Gemeindepolitiker um ihre Ämtlein fürchten!

Agglo: Trotzdem bleibt das Problem der verlorenen Identität: Wir sind nicht Stadt, wir sind Land ...

Stadt: Wenn Identität nur durch Abgrenzung gegenüber der Stadt definierbar ist, dann ist das aber eine schwache Identität! Gerade die Liebe und Verbundenheit zur Landschaft ist ein Grund zur Fusion mit der Stadt. Funktionen können zusammengelegt werden, es wird weniger Land verbaut, und die Agglo wird aufgewertet, weil die Zusammenarbeit mit der Stadt eifersuchtslos und pragmatisch angepackt werden kann. Die Stadt Basel braucht die Landschaft und Basel-Landschaft braucht die Stadt. Zusammen sind sie sowohl wirtschaftlich als auch politisch stärker.

Agglo: Stadt und Land arbeiten ja in wichtigen Dossiers ohnehin zusammen; das funktionierte ja offenbar bisher. Ausserdem führte Zusammenarbeit mit der Stadt stets zu hohen finanziellen Belastungen, zum Beispiel für kulturelle Leistungen wie das Theater, die nur von wenigen Leuten genutzt werden. Es gibt auch eine Kultur in den Agglomerationen und Dörfern, die gefördert und erhalten werden will. Unsere Gesangsvereine, unsere Mehrzweckhallen, unsere regionalen Feste.

Stadt: Niemand will populäre Kultur abwürgen, ob sie in der Stadt oder auf dem Land stattfindet. Ich bezweifle aber, dass man sie in einem «pseudoländlichen» Kontext für die Zukunft erhalten und für die Jungen einer nächsten Generation attraktiv erhalten kann. Es verändert sich doch alles, und nur durch ständige Veränderung und Infragestellung lassen sich Traditionen und Werte aufrechterhalten.

Agglo: Das ist doch keine Generationenfrage. Es wird immer Menschen geben, welche sich auf dem Land wohler fühlen und das Stadtleben ablehnen. Das erlebt die Stadt ja sogar in ihren eigenen Mauern. Einzonungen von Familiengärten für Wohnüberbauungen werden abgelehnt, obwohl mehr Menschen davon profitieren könnten; Zonenplanrevisionen haben es schwer beim Volk, weil die Leute Hochhäuser und Verdichtung nicht mögen. Auch in der Stadt wollen viele an Orten wohnen, die dörflichen, ja bäuerlichen Charakter haben.

Stadt: Bäuerlich ist das nicht, aber tatsächlich gibt es eine Bewegung hin zu landwirtschaftlicher Produktion mitten in der Stadt. «Urban Farming»-Pioniere produzieren auf Flachdächern von Lokdepots frisches Gemüse und betreiben Fischzucht. Aber das ist Ausdruck einer urbanen Kultur und nicht einer bäuerlichen Retrobewegung. Das ist eine kreative Form, an verdichteten, «unmöglichen» Orten Qualität zu produzieren. Es ist auch ein weiterer Beweis, dass Kreativität und Innovation in der Stadt entsteht, weil dort seit jeher Konkurrenz und Druck sich zu behaupten herrscht, während ausserhalb der Stadt Selbstgenügsamkeit und Abwehrhaltung gegenüber Neuem vorherrschen. Wenn Ihr sagt, die dörfliche Mentalität erfasse die Stadt, so antworte ich, dass nur eine urbane Mentalität die Agglo vor der Verslumung und Verwahrlosung retten kann. Nur dann wird diese riesige schweizerische Nicht-Stadt, in der über die Hälfte der Schweizerinnen leben, zum attraktiven Ort für Menschen und für Firmen.

Agglo: Es entspricht doch nicht der Schweizer Mentalität, die Vororte zu verstädtern. Das ging höchstens noch zur Zeit der Eingemeindungen Anfangs 20. Jahrhundert in Zürich oder in Basel, als zum Beispiel das Fischerdorf Kleinhüningen einverleibt wurde. Das wäre doch heute undenkbar! Nennen Sie mir einen einzigen Ort in der Schweiz, wo das heute probiert wird ...

Stadt: Es gibt leider wenig Beispielhaftes, aber interessante Versuche: L’Ouest Lausannois, Zürich Glatttalstadt und die Birsstadt vor den Toren von Basel. Interessant ist ja, dass die Initiative zur gemeinsamen Planung mittlerweile von den Gemeinden ausgeht und nicht bloss auf Druck der Kantone, das heisst «bottom up». Diese Beispiele werden zeigen, ob es der Schweiz gelingt, für das Problem der Zersiedlung und des Bevölkerungswachstums eine eigene, spezifische Lösung zu finden, einen neuen Föderalismus, der ohne Heimatparolen und Subventionen überleben kann.

Jacques Herzog, 1950 in Basel geboren, studierte 1970 bis 1975 Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH Zürich) bei Aldo Rossi und Dolf Schnebli. Er gründete 1978 ein eigenes Architekturbüro gemeinsam mit Pierre de Meuron. Seit 1994 ist er Gastprofessor an der Harvard University und seit 1999 Professor an der ETH Zürich.

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