Klippe wird Raum

Neues Hauptgebäude der UTEC-Universität in Lima von Grafton Architects

Frederick Cooper Llosa, Grafton Architects (Bilder)

Die irischen Architektinnen von Grafton haben ein grossartiges Gebäude geschaffen, dessen tief gestaffelter Erschliessungsraum von Virtuosität nur so vibriert.

Das neue Universitätsgebäude von Grafton Architects (oben in der Mitte) steht in einer coupierten Topografie und vermittelt zwischen zwei städtebaulich sehr unterschiedlichen Quartieren.

In Zeiten, in denen ein Übermass an Information unsere Wahrnehmung überflutet, mobilisiert die Intuition unerwartete Kraftreserven, um aussergewöhnliche Meisterleistungen zu erkennen. Dies war der Fall, als ich vor einigen Jahren in verschiedenen Publikationen die Universität Bocconi in Mailand von Grafton Architects sah (vgl. wbw 11 – 2008). Da ich vorher noch nie etwas über die Arbeit der Architekten gehört hatte, schrieb ich ihnen ganz unverblümt (ich kannte weder Yvonne Farrell noch Shelley McNamara), um anzufragen, ob ich das Gebäude besuchen könne. Ich ahnte, dass sich ein Besuch lohnen würde. Unnötig hinzuzufügen, dass das Gesehene meine Vorahnung bestätigte. Die Bocconi ist ein Meilenstein auf dem weiten und oft schwierigen Terrain der zeitgenössischen Architektur: Die von oben nach unten gestaffelten Stockwerke lassen den Raum des Erdgeschosses sich frei zwischen den verschiedenen Erschliessungsknoten und Servicebereichen entfalten.

Im Schnitt wird die architektonische Komplexität
und die in jeder Hinsicht ungewöhnliche Dimension des Schwellenraums im Schatten spürbar.

Umfassende Recherche

Einige Jahre später wurde ich angefragt, um bei der Organisation des Wettbewerbs für das Hauptgebäude der UTEC, einer neu gegründeten Universität in Lima, mitzuwirken. Das Gebäude sollte auf einem zwar privilegierten, aber topografisch schwierigen Bauplatz entstehen. Ich regte bei den Auslobern an, mit einer begrenzten Auswahl von ausländischen Büros – die die einheimische Konkurrenz ein wenig anstacheln sollte – auch die Graftons einzuladen, denn ich war überzeugt, dass sie diese schwierige Herausforderung mit derselben Stringenz und kreativen Sensibilität wie in Mailand angehen würden. Damals hatte ich mich in Dublin bereits angesichts ihres Gebäudes für das Department of Finance, das kurz vor der Bocconi fertiggestellt wurde, von ihrem Können überzeugt. So nahmen sie am Wettbewerb teil und gewannen ihn.
Jurypräsident Kenneth Frampton (weitere Jurymitglieder waren Francesco Dal Co und Juhani Pallasmaa sowie Antonio Graña, Fernando Correa und José García Bryce, drei angesehene peruanische Architekten) erlaubte mir, an den Sitzungen teilzunehmen. Die Jury traf eine engere Auswahl von drei Büros, die den Entwurfsprozess an einer Präsentation erläutern sollten. Da die Graftons auf die Shortlist kamen, flog Yvonne Farrell nach nur einem Tag der Vorankündigung ein, um ihr Konzept darzulegen. Die beiden anderen Mitbewerber in der engeren Auswahl waren peruanische Büros.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics
of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

Das auffallend tiefgründige Wissen über den Bauplatz, das Bauprogramm, die Beschaffenheit der unmittelbaren städtischen Umgebung, die klimatischen Eigenheiten Limas und seinen sozialen Hintergrund sowie über die technischen Vorgaben in Peru (über die die Architekten aus dem fernen Dublin unglaublich präzise Informationen eingeholt hatten) und aber auch über die Erwartungshaltung des Bauherrn (eine Bergbaugesellschaft, die die technische Fachhochschule vor dreissig Jahren für mittellose Jugendliche ins Leben gerufen hatte) an diese neu gegründete Universität mit einer langen Lehrtradition – alle diese Aspekte kamen in Farrells eindrucksvoller Präsentation zum Tragen.
Erstaunlicherweise hatten es die Graftons geschafft, sich alle relevanten Informationen zu beschaffen, um ein architektonisches und städtebauliches Konzept auszuarbeiten, das nicht nur der vom Auftraggeber erwarteten kulturellen Leistung entspricht (als Zeichen für die Seriosität und die Qualität der Ausbildung, für die diese Initiative steht), sondern das sich auch in einen äusserst komplizierten Kontext einfügt: Das Gebäude steht zwischen einer Schnellstrasse, einem Park mit einem flachen Museumsbau für zeitgenössische Kunst sowie einer Nachbarschaft, die sich aus zweistöckigen, fünfzig Jahre alten Durchschnittshäusern zusammensetzt, die einen pittoresken und vorstädtischen Charakter zeichnen. Der Baugrund liegt im Süden Limas, in unmittelbarer Nähe des Pazifiks, an der Grenze zwischen zwei mittelständischen Vierteln. Das südliche davon ist ein Intellektuellen- und Künstlerviertel mit vielen Galerien und Museen.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

In den wenigen ihr zur Verfügung stehenden Minuten erläuterte Yvonne Farrell überzeugend, wie diese Aspekte sich mit den sehr spezifischen Eigenheiten des in Peru vorherrschenden Bildungssystems und der akademischen Lehre verbinden sollten. Sie sah vollkommen richtig, dass diese durch das architektonische Konzept verbessert werden sollte, wobei die Besonderheiten des lokalen Klimas und die beeindruckende Aussicht auf den Pazifischen Ozean zu berücksichtigen waren.
Yvonne Farell illustrierte alle ihre Argumente mit Grafiken, Zeichnungen und Plänen und löste leichterhand alle Anforderungen des Wettbewerbs ein. Dasselbe galt für die architekturspezifischen Knackpunkte wie die bautechnischen Gegebenheiten, Stadtbildfragen und eine anregende Studienumgebung, die die Graftons als unabdingbare Voraussetzungen für eine zufriedenstellende architektonische Präsenz im städtischen Raum und anregende wissenschaftliche und künstlerische Arbeit in einem erfreulichen Innenausbau erachten.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

Städtebauliche Stimmigkeit

Trotz der bisher nur teilweisen Fertigstellung (es sind zwei Bauphasen vorgesehen, von denen bisher nur die erste abgeschlossen ist, was ungefähr der Hälfte des gesamten Bauvolumens entspricht) sind alle im Wettbewerbsbeitrag und in der Präsentation Yvonne Farrells vorgebrachten Ideen umgesetzt worden, auch wenn das eine oder andere noch im Werden ist – wie etwa die hängenden Gärten, die die räumlichen Qualitäten des offenen Grundrisses und der vertikalen Räume unterstreichen und den Massstab des Gebäudes an die bescheidenen Gartenanlagen des südlich gelegen Quartiers und des benachbarten Museumsparks angleichen sollen.
Das zunächst auffälligste Merkmal des Gebäudes ist die besondere Entwurfsidee für das Volumen: Ohne im Geringsten etwas von seiner beeindruckenden Grösse einzubüssen, fügt sich der Bau auf geniale Weise ein zwischen die sich in offenen Kurven Richtung Pazifik windende Schnellstrasse und dem malerischen und intimeren Viertel, zu dem hin es sich in westliche Richtung neigt. Der Entwurf entfaltet diese Stimmigkeit dank einer Betonkonstruktion, die ihre volle Höhe zur Schnellstrasse hin entwickelt und ihre muskulösen, durchbrochenen Pfeiler wuchtig in die Vertikale stemmt, bis sie an den durchlaufenden flachen Gebäudeabschluss stossen. Die Robustheit der Konstruktion, die auch eine Konsequenz des erhöhten Erdbebenrisikos am Rand der pazifischen Platte ist, wird im Schnitt geschickt und feinfühlig gemindert mit der Form eines unregelmässigen Pentagramms, aufgelöst in horizontale Streifen, die die Abstände zwischen den Stützen überbrücken. Sie gliedern damit nicht nur das massive Gitter der Gesamtstruktur, sondern bringen auch die reiche Vielfalt der Erschliessungswege, Plattformen, Treppenhäuser und Gartenboxen zur Geltung, welche die massive Gebäudefront auf voller Höhe zur nördlichen Schnellstrasse hin charakterisieren.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

Schon im Wettbewerbsmodell war zu erkennen, dass das gitterartige Tragwerk gleichzeitig die innere Gebäudestruktur ausbilden würde. Die Konstruktion stellt somit eine wichtige Ressource dar, die nicht nur verantwortlich ist für die vertikale Erschliessung, sondern auch die nach unten gestaffelten und mehrschichtigen Open-Space-Brücken und -Korridore mit der Struktur verwebt. Die brillante Artikulation einer hohen künstlichen Klippe, die der weitläufigen Ausdehnung der Schnellstrasse und der vertikalen Erscheinung der Hochhausfront entlang der Küstenstrasse entgegentritt, um dann schliesslich mit dem dichten Raster des Skelettbaus langsam hin zur kleinteiligeren Umgebung auf der Rückseite des Gebäudes abzufallen: Das ist es, was die überdurchschnittliche Qualität dieses architektonischen Konzepts ausmacht.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

Engagierte Haltung

Trotz der imposanten Wirkung des gekrümmten Volumens auf seine Umgebung stellt – so glaube ich – die komplexe und doch zugleich klare und verführerische Qualität der inneren Struktur die grösste Leistung des UTEC-Gebäudes dar. Mit selten dagewesener Virtuosität werden die geschlossenen und offenen Räume, die Brücken, Korridore, Treppenhäuser, Rampen und das sichtbare Tragwerk, die Stützpfeiler, Säulen und Wände verschiedener Dimensionen, miteinander verwoben. Die vielfältige räumliche Wahrnehmung der inneren offenen und geschlossenen Raumstrukturen erzeugt eine einzigartige emotionale Erfahrung, ein Wohlbehagen: Tiefenwirkung, Rhythmus und Proportion warten mit einer Fülle an architektonischen Gestaltungsmitteln auf, die zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Taucht man ein in diese erstaunliche Komplexität der ständig wechselnden Massstäbe, Aussichten und Schattenwürfe der inneren Struktur, so möchte man einen Piranesi’schen Charakter ausmachen, auch wenn seitens der Architekten jede ausdrückliche Referenz an dieses formidable Vorbild vermieden wird. Hinzu kommt Graftons feiner Sinn für das Justieren der Massstäbe, so dass die gesamte Innenkonstruktion einen unergründlichen Wandel durchmacht von der imposanten Höhe der Nordfront hin zu der bescheideneren Dimension der südlichen Nachbarschaft.

Die filmische Sequenz lässt einen in den vielgestaltigen Raum eintauchen. Grafton Architects präsentierten mit dem Film The Physics of Culture das UTEC-Gebäude an der Architekturbiennale 2016 in Venedig.

Diese Integration der Gegensätze beiderseits der Hauptfronten verleiht dem Gebäude den Charakter einer vertikalen Stadtlandschaft, in der die ständig wechselnden Eindrücke und die Nutzer in den offenen und geschlossenen Räumen den Eindruck einer urbanen Szene hervorrufen – belebt von Studentengruppen, die in den vielen Aussenbereichen zusammenkommen, um zu lernen oder sich auszutauschen. Die Architekturchoreographie bietet Aussichten in Richtung Osten und Norden zu der ansteigenden, ungeordneten Skyline der benachbarten Vorstädte, der flachen Nachbarschaft im Süden und dem schier endlosen Panorama des Pazifiks mit seinen tangbedeckten und von Kletterpflanzen bewachsenen Klippen.
Grafton Architects ist es gelungen, sich mit dem Programm, der angrenzenden Umgebung und den sozialen Bedingungen gründlich auseinanderzusetzen, ohne dabei zu vernachlässigen, dass das Gebäude seinen städtebaulichen Kontext festigen und den Studierenden eine ästhetisch wertvolle und stimulierende Lernumgebung bereitstellen sollte. Dieses Meisterstück ist ihnen ohne Zugeständnisse an eine absehbare Formensprache oder banale Interpretation der Umgebung geglückt. Was nun als eine moderne Klippe inmitten des urbanen Vielerleis steht, ist ein Symbol für das, was Architektur sein kann, wenn Intelligenz, Sensibilität und ernsthaftes Engagement feste Bestandteile einer aufrichtigen beruflichen Haltung sind.

Frederick Cooper Llosa (1939) ist Architekt, Publizist und Universitätsprofessor in Peru. Seit 1966 unterrichtet er hauptsächlich Entwurf, Städtebau und Architekturgeschichte; von 2007 – 14 war er Vorsteher der Fakultät für Architektur und Städtebau an der Pontificia Universidad Católica del Perú in Lima.

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