Brief aus Mexiko

Ciudad de México, Eindrücke und Reflexionen

Yves Dreier, Eik Frenzel (Bilder)

Yves Dreier und Eik Frenzel, die in Lausanne ein gemeinsames Architekturbüro führen, gewannen 2016 den Schweizer Kunstpreis und ein Atelierstipendium des Bundes in Ciudad de México. Sie berichten in diesem Text- und Bildessay über ihre persönlichen Eindrücke aus einer Stadt, von der niemand weiss, ob sie 20 oder 28 Millionen Einwohner zählt und die so unkontrolliert wächst, dass auch ihre genaue Fläche – in der Grössenordnung von 3 500 km² – nicht bekannt ist.

Jeder Winkel findet sogleich eine neue Verwendung: Die unendliche Zahl eigentlich unerlaubter, aber tolerierter Provisorien sorgt für ein vielgestaltiges städtebauliches Vokabular auf Augenhöhe.

Als Erstes muss man wohl oder übel all die Probleme aufzählen, unter der die Zona Metropolitana leidet: Eine Wasserversorgung, die ständig unterbrochen wird und in der sich Frischwasser oftmals mit Abwasser vermischt; ununterbrochene Verkehrsstaus trotz separaten Busspuren und alternierendem Fahrverbot für einen Teil der Fahrzeuge; eine Luftverschmutzung, welche die Grenzwerte regelmässig überschreitet; hohe Kriminalität in Bezirken, in denen Korruption oder mafiöse Organisationen regieren; das allmähliche Absinken der Stadt, weil zu viel Grundwasser entnommen wird; die Gefahr von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, vor denen die Frühwarnsysteme nur ungenügend schützen.

Grenzen des Wachstums

Unter planerischem Gesichtspunkt versteht sich jede Verwaltungseinheit (Delegacion) als eine Stadt in der Stadt mit einem Einzugsgebiet von durchschnittlich 1,5 Millionen Menschen. Eine stadtplanerische Logik in Form eines mehr oder weniger einheitlichen Schachbrettmusters ist auf der Ebene des einzelnen Quartiers (Colonia) erkennbar. Mittlerweile hat sich die Stadt bereits bis an den Fuss der Berge ausgedehnt, die ihre Fläche bis anhin eingrenzen – und damit, vereinfacht gesagt, einen Punkt erreicht, über den sie nicht hinaus kann. In der Folge scheint das Paradigma des grenzenlosen Wachstums einem neuen Ansatz zu weichen: Man denkt über eine Verdichtung, Aufwertung und Erneuerung der bestehenden Struktur nach. Die verschiedenen Quartiere, heute durch grosse Verkehrsachsen rücksichtslos voneinander getrennt, müssen wieder verbunden werden. Dies bietet auch die Chance, mehr Erholungsraum zu schaffen und die Beziehungen zur natürlichen Umwelt sowie die soziale Durchmischung zu verbessern.

Wundersam und faszinierend

Angesichts der Gigantomanie dieser Megastadt konzentrieren wir uns in diesem Essay auf das Leben im öffentlichen Raum – subjektiv und mit all unseren Sinnen. Wir lassen uns auf die städtebauliche Gestaltung im Mikrobereich ein. Wir spüren den Details im Alltag nach, die das vibrierende Leben, seinen Puls, die kulturelle Diversität und den intensiven Austausch auf der Strasse veranschaulichen. Damit thematisieren wir auch die erstaunliche Resilienz dieses Organismus, der jede Norm sprengt.

Die urbane Atmosphäre von Mexico City übt eine ungemeine Faszination aus, selbst wenn man sich nur vorübergehend dort aufhält. Die Stadt funktioniert auf wundersame Weise, mit einer undurchschaubaren Organisation, deren Regeln sich nicht erkennen lassen. Eine strukturierende Sicht auf diesen Organismus zu entwickeln, ist deshalb ein Ding der Unmöglichkeit, und wer nach einer kohärenten Gesamtsicht sucht, ist schnell im Bereich der Fiktion. Wir gehen deshalb von der zufälligen Entdeckung aus und von der flüchtigen Begegnung, wir nehmen die Rolle des sorglosen Stadtwanderers ein, der auch einmal ins Schwärmen gerät.

Unser Blick und unsere Überlegungen während sechs Monaten in dieser Stadt orientierten sich an zwei Leitgedanken: Der erste fragt nach dem Wert des menschlichen Massstabs in diesem schier end- und masslosen Stadtgewebe, die zweite nach dem kulturellen Mix der Gesellschaft, die tief in der Kultur der Moderne verankert ist, ohne ihre traditionellen Werte zu verneinen.

Der Mensch in der Megalopolis

Je dichter die Stadt bevölkert ist, desto deutlicher spürbar wird die humane Dimension. Ganz unterschiedliche Faktoren tragen zur Vitalität des öffentlichen Raums bei: das ganzjährig stabile Klima mit Temperaturen zwischen 15 und 30 Grad, üppig begrünte Strassen, die allgegenwärtigen Läden im Erdgeschoss – und ebenso das scheinbare Fehlen von Regulierungen.

Der temporäre Charakter bestimmt die Art, wie der öffentliche Raum in Anspruch genommen wird. Für jeden unbenutzten Anbau, jeden aufgegebenen Winkel findet sich sogleich eine neue Verwendung. Zeichen des Alters und des Verfalls dienen dabei als Alleinstellungsmerkmal. Gleichzeitig markiert man mit minutiöser Reinigung tagtäglich den besetzten Raum. Auf diese Weise dominieren Gewohnheitsrecht und stillschweigende Übereinkunft über allfällige Regeln, notfalls aber auch strenge selbsternannte Kontrolleure über Rechtlosigkeit. Die unendliche Zahl eigentlich unerlaubter, aber weitgehend tolerierter halböffentlicher Provisorien sorgt für ein uneinheitliches und vielgestaltiges städtebauliches Vokabular auf Augenhöhe: mit Blech oder einer Plane bedeckte Rohre, von Masten und Kandelabern hängende Stromkabel, zwischen Ständen gespannte Seile, dazwischen gelegentlich ein Abzugsrohr für die Dämpfe der Garküche, Haken, Stangen und schwankende Bretter zum Ausstellen der Waren, klapprige Bänke, festgezurrte Sonnenschirme, die auch Böen und Gewittern widerstehen. Die enorme Vielfalt dieser behelfsmässigen Einrichtungen zeugt von Fantasie und Findigkeit. Manche überleben ein paar Monate, andere nur einen Tag.

Es herrscht ein Geist der ständigen Neuerfindung: Wird etwas nicht mehr gebraucht, verwandelt es sich flugs in Rohmaterial für neue Konstruktionen. Diese zusammengebastelte und deshalb kurzlebige Infrastruktur schafft einen urbanen Kontext, der das Spontane fördert und einen menschlichen Massstab aufscheinen lässt.

Trotz Verkehr und holprigem Belag dehnt sich dieser öffentliche Raum auf dem Gehsteig aus, dringt in jede Strassenecke, besetzt die Aussenseite von Arkaden. Er bietet Platz für alles: die Tortillabude, einen Abfallkarren, geparkte Taxis, den mobilen Friseur, einen Manikürsalon, rauchige Grills oder einen Zeitungskiosk. Alles dient als Vorwand für geschäftiges Treiben, lockt Passanten an, denen man vielleicht etwas verkaufen kann. Der öffentliche Raum ist auf höchst dynamische Art belebt. Er ist lärmig, quirlig, überschwänglich, voller lauter Rufe und äusserst lebendig – wie die Stadtbewohner selbst, die ihn einnehmen und als gemeinsames Gut betrachten.

Weiter oben, auf den Dächern und erhöhten Terrassen, ist die Atmosphäre entspannter und lädt zum Verweilen ein. Geschützt vom Wirrwarr der Strasse geniesst man hier oben die Weitsicht. Im Hintergrund breitet sich die Silhouette der Stadt aus und verrät ihr endloses Ausmass. Im Vordergrund herrscht auch hier ein menschlicher Massstab vor: Brüstungen und Geländer, eine Markise, Lauben, Treppenstufen, ein Blumentopf, Papiergirlanden in dürftiger Beleuchtung, Tische und Stühle in zufälligem Arrangement.

Mexiko galt in der Zwischen- und Nachkriegszeit
des 20. Jahrhunderts als Land der Pioniere und der Hoffnung auf ein modernes Staatswesen; der Aufbruch äusserte sich in teils anonymer
modernistischer Architektur.

Ein ganz eigener Modernismus

In einer unmittelbaren visuellen Beziehung zu der eben beschriebenen Art von Öffentlichkeit steht der uneinheitliche Ausdruck der eigentlich schnurgerade aufgereihten Baukörper. Trotz ihrer Heterogenität zeigt sich auf den zweiten Blick ihre formale Einheit: eine Art ästhetische Übereinkunft, ergänzt mit einem Schuss Modernismus. Sie verrät den enormen Aufschwung, den die mexikanische Gesellschaft und die Stadtstruktur im 20. Jahrhundert erlebten. Dieser Modernismus zieht sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten und wird zum Träger einer ganzen Reihe architektonischer Eigenheiten. Er emanzipiert sich von den Dogmen, wird anschaulich und kommt den Menschen entgegen, wird durch Erneuerungsarbeiten über die Jahre mexikanischer in seiner Art. Traditionelle Elemente, die lokalem Know-how entspringen, verleihen ihm eine sehr volksnahe Dimension.

Je komplexer der urbane Kontext, desto stärker die Abweichung vom modernen Kanon und seinen Modellen – am deutlichsten wird dies bei Eckgebäuden. Zwar verrät auch ihre Formensprache einen modernistischen Geist, doch weicht der architektonische Ausdruck so stark davon ab, dass sich eine erfrischende, unbekümmert zeitgenössische Ästhetik entwickelt.

Träger des modernistischen Ausdrucks dieser Gebäude – die weder Heizung noch Dämmung besitzen – sind die grosszügigen Öffnungen, Balkone, Terrassen und Erker, die das milde Klima bezeugen. Dank ihrer unbekümmerten Alltagstauglichkeit emanzipieren sich die Fassaden im Nu von ihrer Funktion als Konstruktionselement und sind nur noch Träger autonomer Farbkompositionen, die sich im Lauf der Zeit verselbständigen.

Dem ursprünglichen Material der Fassade kommt für den architektonischen Ausdruck nur geringe Bedeutung zu: Schnell verschwindet es hinter neuen, ihrerseits bald wieder abblätternden Farbschichten mit vielfältigen, vom Zufall bestimmten Ausdrucksformen, die von unbefangener und überbordender Kreativität zeugen. Unterhalten wird einzig diese oberste, sichtbare Schicht aus lebhaften Farbtönen, mit häufigen und wiederkehrenden Veränderungen – denn nichts ist hier von Dauer. Die bunten Flächen überformen ungeniert die Proportionen und Strukturen der Architektur, zum Guten oder zum Schlechten – je nach Gesichtspunkt und Geschmack. Diese Neigung zum Ungewohnten und Bizarren entspricht den vielfältigen Lebensarten und dient der persönlichen Identitätsfindung: Auffällige Logos, Motive und Slogans, direkt auf die Fassade gemalt, prägen die lebendige Stimmung des Strassenraums.

Wie die Inbesitznahme des öffentlichen Raums vermittelt auch diese stetige Verwandlung der Fassaden einen menschlichen Massstab: Sie erfolgt ganz ohne Baumaschinen, in Handarbeit. Mit Einfallsreichtum bewältigt man Schwierigkeiten und bringt nichtplanbare Lösungen hervor. Durch intuitive Befreiung und ohne gesellschaftliche Norm entstehen ganz persönliche Neuinterpretationen, welche wie Wunderwerke gesellschaftliche und künstlerische Momente auf zeitgenössische Art zum Einklang bringen.

Neben ihren Tätigkeiten als Architekten in ihrem Büro in Lausanne wirken Yves Dreier (1979) und Eik Frenzel (1979) als Architekturkritiker, Fotograf und Künstler. In allen ihren Projekten beziehen sie sich auf die Stadt als Kontext und auf die sozialen Qualitäten des urbanen Zusammenlebens.

Aus dem Französischen von Christoph Badertscher

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