Wenn die Hände laufen

Wo Mensch und Gebäude sich berühren

Jenny Keller, Richard Barnes (Bilder)

Am Handlauf, der nicht umsonst so heisst, berührt die Architektur unsere menschliche Haut. Gedanken zu einem unterschätzten Ort des symbolischen Ausdrucks.

Walter Gropius und Marcel Breuer entwarfen das Alan I W Frank House in Pittsburgh. Die futuristisch organische Treppe ist ein Bild für den Aufstieg des Hausherrn als Industrieller.
Bild: Richard Barnes

Zu Beginn eines Jahres herrscht auf den Treppen in Büro- und Wohnhäusern vielfach reger Betrieb: Der Vorsatz, mehr Sport zu treiben, lässt sich schliesslich hier am effizientesten und günstigsten umsetzen. Doch im Lauf der Zeit verschiebt sich der Strom wieder vermehrt in den Lift: Der Mensch ist faul. So auch der Architekt oder die Architektin (wenn es die in toto überhaupt so gibt), weshalb das Treppenhaus beim Entwurf leider viel zu oft vernachlässigt wird. Schliesslich ist es ein notwendiges Übel zur Überwindung von Höhe, das zudem keine Rendite abwirft. Dabei sind die Möglichkeiten zur Verwendung von Treppen als Entwurfselement vielfältig, schreibt Matthias Noell, denn keine Quadratmeterzahl schränke das Nachdenken über sie ein. Dort, wo die Treppe mehr ist als vertikale Erschliessung, zum Beispiel ein besinnlicher Kommunikationsraum wie im Hapimag-Sitz in Steinhausen, ein räumliches Manifest wie die Kaskade als Pendant zur Gull’schen Ruhmeshalle im Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich (Christ & Gantenbein 2016) oder ein barocker Stadtraum wie die Spanische Treppe in Rom, kann eine Treppenanlage berühren, zuweilen alle Sinne.

Bild: Richard Barnes

User-Interface der Architekur

Am Handlauf einer Treppe berührt der Mensch die Architektur mit der blossen Haut. Diese Begegnung kann kalt, kantig oder rund und handschmeichelnd sein. Ein Handlauf kann aus Metall, Holz oder Stein bestehen, abgenutzt oder ungenutzt, zuweilen schmutzig oder schmierig sein; in Zeiten des Corona-Virus könnte der Gentleman, statt der Dame in den Mantel zu helfen, mit einem antibakteriellen Spray und einem antistatischen Tuch den Handlauf vorputzen. Auf jeden Fall wird der Handlauf oft berührt und viel zu wenig beachtet – von der Architekturtheorie wie auch entwerfenden Architekturschaffenden. Denn aus einem Objekt mit bis zu fünf Zentimetern Durchmesser kann ein Kabinettstück enstehen. Dabei ist im Gegensatz zum Türgriff der Handlauf meistens custom made und wenn man beim Neudeutschen bleiben will: das User-Interface der Architektur. Hier betreibt der Architekt (wir wollen ihn nun so nennen und meinen dabei auch sie) Innenarchitektur, hier geht es um ein taktiles Objekt, dass mehr kann als nur Halt geben. Wer sich mit der Metaphysik eines Bauwerks befasst, wer mit Architektur alle Sinne ansprechen will, muss am Handlauf beginnen. Denn hier ist der Tastsinn angesprochen, der Berührung, Druck, Dehnung der Haut, Vibrationen, Schmerz, Temperatur wahrnimmt – der einzige unserer fünf Sinne, den wir nie ausschalten können.1 Spätestens hier wird klar: Der Handlauf ist mehr als der von der SUVA geforderte Stolperschutz, der in der Regel beidseitig anzubringen ist, 90 Zentimeter oberhalb des Antritts mit einem Überstand von 30 Zentimetern. Geländer, Brüstungen und somit Handläufe werden in der normierten Architektur unserer Gegenwart als bauliche Massnahmen angesehen, die Personen vor einem Sturz sichern.2 Dabei sind Treppen mit mehr als fünf Stufen in der Regel mit Handläufen zu versehen.3

Heute gilt: keine Treppe ohne Handlauf. Dabei treibt die genormte Korrektheit zuweilen ihre Blüten, und es werden Handläufe abgenommen, die in ironischer Absicht zwar nicht praktikabel, aber vorhanden sind. Doch Handläufe begleiten uns nicht seit jeher beim Treppensteigen, sie sind ein relativ moderner Komfort. Friedrich Mielke, Begründer der «Scalalogie», den man zitieren muss, wenn man über Treppen schreibt, führt den folgenden, einleuchtenden Gedanken an: «Wenn man in früheren Zeiten keine Geländer vorsah, mag dies ein Indiz für die damals geringe Lebenserwartung sein. Man brauchte keine Rücksicht auf eine Überzahl an Senioren zu nehmen.»4 Das Geländer, schreibt er weiter, erfülle manchmal auch ein Verlangen nach Selbstdarstellung, es unterstütze den Auftritt auf repräsentativen Stufen.

Steigen wir also hinab in die Pop-Kultur, warum nicht zur Staircase-Szene im Film Titanic, wo der Passagier dritter Klasse (Leonardo di Caprio) im Smoking der ersten Klasse auf seine Angebetete (Kate Winslet) wartet. Leider braucht sie keinen Halt am wuchtigen Geländer der zweiläufig divergierenden Treppenanlage mit gemeinsamem Antrittsarm und Zwischenpodest. Vielleicht wollte der Regisseur James Cameron damit verdeutlichen, dass sie sich im Herzen nicht der Hautevolée zugehörig fühlt, auch wenn sie erste Klasse reist? Wahrscheinlich wollte er mit dem Abstieg auch eine gesellschaftliche Parallele ziehen. Die Treppe im Film: eine Bühne für Bourdieus Habitus-Konzept.

Die Augen laufen weiter als die Füsse: Handlauf und Bullaugen lenken den Schritt.
Bild: Richard Barnes

Wegbegleiter auf der Treppe als Bühne

Mit dem grossen Auftritt auf der Treppe geht eine Hand einher, die sich grazil, wie die einer Ballerina an der Barre, kaum hält, ihrer Körperhaltung aber mit dieser Bewegung zu mehr Anmut verhilft. So stellt man sich den Auftritt der Dame des Hauses vor, die im Alan I W Frank House vom ersten Stock herabschwebt, um ihre Dinner-Gäste zu begrüssen. Marcel Breuer hat zusammen mit Walter Gropius dieses Anwesen in Pittsburgh erbaut (1939 – 40). Es ist das grösste und luxuriöseste Werk ihrer gemeinsamen Arbeit in den USA, wohin sie aus Nazideutschland emigriert waren. Die Möbel und Details stammen von Breuer. Wer jedoch die skulpturale, inszenierte Treppe und den Handlauf, die die Bewohner futuristisch-organisch nach oben führen, entworfen hat, ist nicht genau zu eruieren. Was für ein Objekt! Diese mit Spanntepich belegte, elegant geschwungene Treppe mit weiss lackiertem Handlauf, sie bringt Mensch und Gebäude auf sehr taktile Weise einander nahe. Das Auge wird durch ovale Bullaugen, die Licht hereinlassen, in den oberen Stock geführt, denn die Augen laufen weiter als die Füsse. Und der Auftritt der Dame ist mit dem Aufstieg des Hausherrn als Industrieller in der Stahlindustrie gleichzusetzen, der sich das nach Bauhaus-Manier moderne, seiner Zeit vorausblickende Gesamtkunstwerk leisten konnte – und wollte.

Parabel auf das Leben

Ob das Geländer im Kloster zuerst Einzug hielt, weil die Mönche nachts von Dormitorium zu Kirche wandelten, oder im Spitalbau, untersucht Mielke nicht näher. Dafür beschreibt er, dass in den Normen nicht bedacht werde, dass Kinder einen eigenen Handlauf – auf Kinderhandhöhe – bräuchten, insbesondere, wenn sie noch unsicher auf den Beinen seien. An Spindeln von Wendeltreppen des 16. Jahrhunderts finde man tiefer angebrachte, griffige Profile, die Kindern als Handlauf nützlich gewesen sein könnten.5

«Mama, schau, meine Hand läuft», sagt das vierjährige Kind beim Hinuntergehen. Und für einmal bleiben wir auf der Treppe stehen und das Kind erfährt, dass man dem Geländer, an dem es sich festhält und auf dem es nie, aber auch gar nie runterrutschen darf, Handlauf sagt. Weil eben die Hand dort läuft. Mit kleinen Kindern denkt man ganz neu über Sprache nach, leider viel zu selten mit genug Musse, und selten genug passiert es, dass man einfach so auf einer Treppe stehen bleibt. Nicht auf einem Podest, sondern mitten auf der Treppe. Stehen bleiben ist keine Option, schliesslich will man etwas erreichen, einen oberen Stock oder den Ausgang. Langsamverkehr auf Treppen gibt es nur mit kleinen Kindern – und alten Menschen. Und der Handlauf, seien wir ehrlich, wird von denen benutzt, die unsicher sind zu Fuss. So könnte man das Rätsel der Sphinx,6 das Ödipus vor den Toren Thebens löste und ihn zum König der Stadt – und damit zum Ehemann seiner eigenen Mutter machte – als Treppenparabel neu schreiben: Am Morgen geht «es» links oder rechts und langsam, wechselt am Mittag in die Mitte, nimmt zwei Stufen auf einmal, um dann am Ende des Lebens wieder an der Seite zu gehen, dort, wo der Handlauf Sicherheit vermittelt.

1 Ich spüre, also bin ich, NZZ am Sonntag, 13. Sept. 2015, S. 26.
2 SIA 358, Geländer und Brüstungen, 1.1.1
3 SIA 358, 2.2.1 und 3.1.5
4 Friedrich Mielke, Handbuch der Treppenkunde, Hannover 1993, S. 204.
5 Mielke, S. 223.
6 «Es ist am Morgen vierfüssig, am Mittag zweifüssig, am Abend dreifüssig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zeit die Zahl seiner Füsse, aber eben wenn es die meisten Füsse bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.» Gustav Schwab, Sagen des klassischen Altertums, Herausgegeben und bearbeitet von Sonja Hartl, Stuttgart/Wien/Bern 2000, S.185.

Anzeige

Lesen Sie werk, bauen + wohnen im Abo und verpassen Sie keine Ausgabe oder bestellen Sie diese Einzelausgabe