Schall und Wahn

Augenschein der Redaktion

Caspar Schärer und Roland Züger, Iwan Baan (Bilder)

Selbst nach den Sturmfluten des Publikums auf die Plaza seit November 2016 und den überschwänglichen Pressemeldungen nach der Eröffnung des Saals im Januar 2017 ist das Interesse an der Elbphilharmonie nicht abgeflaut. Nach der Party also kein Kater, ganz im Gegenteil.

Den Konzertbesuchern der Elbphilharmonie ist der Ausblick aus den oberen Etagen vorbehalten. Alster und Hafen kommen hier gleichzeitig in den Blick. Architektur: Herzog & de Meuron

Das Konzert beginnt erst in eineinhalb Stunden. Und doch sind schon fast alle Sitzbänke in den vielen Foyers rund um den Konzertsaal der Elbphilharmonie besetzt. Paare eher reiferen Alters sitzen dort, neben sich ein Glas Weisswein und blicken versonnen zwischen den Punktwolken auf den Gläsern hinaus ins Freie. Sie kehren den bezaubernden Foyers den Rücken zu. Es sind wahrscheinlich Hamburgerinnen und Hamburger, die extra früh gekommen sind, um sich ihre Stadt in ihrer Gesamtheit von oben anzuschauen – und zwar sowohl die akkurat hergerichtete bürgerliche Stadt an der Binnenalster wie auch das herbe Hamburg des Hafens (vgl. den Beitrag von Boris Sieverts auf den Seiten 32 – 36 in diesem Heft).

Die ausschwingenden Terrassen des «Weinbergs» in der Elbphilharmonie rahmen ein Konzert und machen es zu einem Musik- und Gemeinschaftserlebnis. Architektur: Herzog & de Meuron

Der Saalklang diszipliniert

Eilig hasten wir durch die Foyers, hinter Pressesprecher Tom Schulz her. Es bleibt kaum Zeit, die mit Eichenholz ausgeschlagenen Räume anzuschauen, die ineinander verschachtelt, oft mehrgeschossig, immer mit unerwarteten Durch- und Weitblicken sich um diesen Saal winden. Wir dürfen bei der Anspielprobe der New Yorker Philharmoniker dabei sein und schlüpfen durch zwei hintereinandergeschaltete Türen in den Konzertsaal. Unten spielen die Musikerinnen und Musiker noch in ihren Alltagskleidern, doch der Klang (Akustik: Yasuhisa Toyota) ist tatsächlich überwältigend: klar, präzise, voll, detailliert, gnadenlos. «Der Saal diszipliniert die Leute», sagt Tom Schulz. Wer hier hustet, hat ein Problem. Ganz offensichtlich kann Architektur immer noch eine erhebliche Macht auf die Menschen ausüben.
Die «Weisse Haut», die viel beschriebene, von Computer und Roboter gefräste Innenraumverkleidung des Saals, wirkt auf uns seltsam entmaterialisiert und eigenschaftslos. Ihre Waben sind zwar da und dort zu tollkühnen Kratern und Bergen geformt, sie ist aber in einem gar unaufdringlichen Senioren-Beige gehalten und hat trotz der ganzen Opulenz der Form nichts mit der visuellen Wahrnehmung des Raums zu tun, seltsam diffus wirkt alles auf uns. Die Sitze hingegen auf den umlaufenden Rängen des Weinberg-Saals, von Herzog & de Meuron entworfen, sind raffiniert durchdacht und ganz und gar bequem.
Leider können wir nicht lange auf ihnen verweilen; Pressesprecher Schulz führt uns aus dem Saal und dann etliche Stockwerke nach unten. Je weiter wir hinabtauchen, desto mehr Leute kommen uns entgegen und schrauben sich in die Höhe, alle in freudiger Erwartung und mit staunenden Augen. Ja, Architektur kann natürlich auch verführen, hier oben tut sie es. Wir folgen Schulz und dem wie ein Gehörgang gebogenen Erschliessungsraum hinab bis an den Fuss der letzten Treppe, auf der Höhe der Plaza. Hier verabschiedet er sich von uns und entschwindet zurück in seine Welt.

Zwischen dem Dach des massiven Speichers und dem gläsernen Aufbau umrunden die Besucher die
Plaza der Elbphilharmonie an der frischen Luft und geniessen die Ausblicke.

Zwischen Deckel und Decke

Noch benommen vom Zauberwerk, kommen wir langsam zurück auf den Boden der Tatsachen: Wir stehen auf der Plaza, genauer dem Deckel des alten Kaispeichers, den Werner Kallmorgen 1966 errichtet hat. Über unseren Köpfen die weisse Welt der Musik, der wir gerade entstiegen sind, unter unseren Füssen die dunklen Backsteine. Wir bewegen uns in dem Bereich, der von aussen weithin als Fuge zwischen altem und neuem Teil erkennbar ist. Der Speicher wurde trotz Denkmalschutz ausgehöhlt, sein Stützenraster der Tiefgarage, seine Geschosshöhen der Nutzungsmischung angepasst und um zwei Fassadenmeter aufgemauert. Seiner gravitätischen Ausstrahlung hat es nicht geschadet. Als Gegenstück zur schwebenden Leichtigkeit darüber wussten die Architekten um sein Gewicht. Nun verfolgt uns selbst auf den Weiten der Plaza der dunkelrote Klinker auf Schritt und Tritt.
Eine meisterhafte kleine Inszenierung mit diesem Material gelingt Herzog & de Meuron an der Treppe zu den Toiletten, die eine Etage tiefer in den Speicher führt. Alle Oberflächen des engen Schlitzes sind in Backstein gefasst, der massive Körper ist mit den Händen zu greifen. Dunkle Brandstellen markieren die Trittkanten. Zahlreiche solcher Details sind es, die den Bau herausragend machen.
Wir hangeln uns dem Geländer entlang wieder hoch auf die Ebene der Plaza, die in ihrem Gebrauch an manchen Stellen leider gar nicht ihren baulichen Details nacheifert. Eine Kostprobe: Penetrantes Radiogedudel setzt der Erinnerung an den Konzertklang ein jähes Ende, als wir bei Störtebeker – als Bierbrauerei aus Stralsund wahrlich ein Pirat im Hamburg-Setting! – mit zwei Gläsern Bier den Abend feiern wollen. Wir werden unmissverständlich auf den Plastikbecherzwang für den Konsum auf der Terrasse hingewiesen.
Ein anderes Beispiel atmosphärischer Ignoranz sticht uns beim Blick in die Hotellobby auf der Plaza ins Auge: Statt auf den dunklen Backsteinen des Speichers ist die Allerweltseinrichtung auf heller Keramik abgestellt. Hier wird die Grenze der Inszenierungsmacht von Herzog & de Meuron augenscheinlich – die Mieter ziehen ihr eigenes Ding durch.
Man hebt die Augenbrauen, fast so wie das die weisse Dachuntersicht an der Plaza zu zwei Seiten hin tut und sich aufschwingt. Man tröstet sich an den grossen Tropfen der Lichtkugeln, die in Schwärmen auftreten, oder an der grandiosen Hafenkulisse von der Terrassenkante des Speichers.

Spielende Leichtigkeit des Aufbaus

Keine Stütze stellt sich hier in den Blick. Nur erahnen lässt sich, wie die Kräfte über und um den 55 Meter überspannenden Saal herum geführt werden mussten (vgl. den Beitrag zum Tragwerk auf Seiten 51 – 53 in diesem Heft). Dieselbe auf- und abschwingende Untersicht begleitet uns auch auf dem Terrassenspaziergang in der Fuge zwischen dem Speicher und dem Glasbau – als wär’ es ein Leichtes gewesen, diesen hochzustemmen. Allein diese leisen Modulationen der Decke versetzen den langen Umgang unter räumliche Spannung und setzen die Besucher mit jedem Tritt ins Verhältnis mit der weissen Welt der Musik auf den oberen Etagen der Elbphilharmonie.
Mit vergleichbarem Effekt umspielen im Inneren, an zahlreichen Stellen der Plaza, viele Laufmeter Spiegelwände Nebenräume, Technikzonen und Erschliessungsgänge. Sie machen die technischen Notwendigkeiten vergessen und formen gleichzeitig die Aussicht zum Bild.

In hohen Bögen öffnet sich die Plaza der Elbphilharmonie zum Umgang. Gewellte Glaswände dienen dem Windschutz. Seitlich davon gelangen die Besucher durch Schleusen ins Freie. Architektur: Herzog & de Meuron

Nicht überall konsequent

Zurück vom Rundgang an der frischen Luft gelangen wir wieder zur Mitte der Plaza, die einem funktionalen Drehkreuz gleicht. Hier liegen die Aufgänge zum kleinen Saal mit 550 Plätzen und der in den grossen Saal mit 2100 Sitzen gegenüber. Gerahmt werden beide Aufgänge von den beiden Ausgängen auf die Terrasse, allesamt auf dem weiten Backsteinboden. Dieser führt den Besucher auf ausladenden Stufen zu einem schmalen Schlund und dann über zwei gegenläufige Rolltreppen in die Stadt zurück.
Wer genauer hinschaut, dem fallen die Höhedifferenzen im Übergang zwischen dem dunklen Backstein und der beschwingten weissen Welt aus Gips darüber, dem Gewölbe der Plaza, ins Auge: Einmal bildet ein zwei Steine hoher Sockel den Auftakt, einmal nimmt die Wendeltreppe unvermittelt Anlauf auf der Backsteinauslage. Hier war wohl mehr die Baufirma Hochtief als das Architekturbüro aus Basel federführend.
Auf der oberen der beiden Treppen rollen wir dem gigantischen, zwei Geschosse hohen Fenster nach Westen entgegen. Das gleissende Abendlicht im Antlitz, der Blick schweift den Elbufern entlang Richtung Meer. An dieser Stelle dient die ansonsten souverän eingesetzte Materialisierung nicht mehr der Weginszenierung. Die Konsequenz eines eingelagerten Raums im Backsteinspeicher, wie beim Abgang in die Toiletten, lassen die dunkel verputzen Wände hier vermissen. Dieser Raum, in dem die Rolltreppen ihre Richtung wechseln, liegt unentschieden zwischen den beiden Wegabschnitten.
Die grandiose Aussicht über die Landungsbrücken in Richtung Altona lässt dies freilich schnell vergessen. Und bereits stehen wir wieder auf dem unteren, längeren Abschnitt der Rolltreppe, dessen Ende durch die Biegung der langen Röhre beim Besteigen noch nicht absehbar ist.

Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron in der HafenCity

Schlitz statt Willkommensgeste

Zurück auf Stadtniveau queren wir die Drehkreuze und landen unvermittelt wieder vor dem Speicher. Dem Eingang auf Erdgeschossniveau ist der Auftakt der Inszenierung vorbehalten, er ist selber aber sehr prosaisch, gar spröde gehalten. Die Architekten konzentrierten alle wichtigen Zugänge an einer Stelle, um sie in einem breiten Schlitz unterzubringen. Alle Eingänge nebeneinander aufzureihen, macht jedoch eine falsche Priorität sichtbar. Was im autovernarrten Deutschland zunächst angemessen scheint, nämlich dem Fahrzeug Vortritt zu gewähren, ist doch dem öffentlichen Bau abträglich. Über das Bedürfnis Wartender bei Hamburger Nieselregeln legen wir den Mantel des Schweigens.
Zum Abschluss drehen wir noch eine Runde in der Hafencity. Am Kaiserkai ziehen wir missmutig an den benachbarten Neubauten vorbei; aber als wir uns umdrehen, sehen wir in der Strassenflucht den mächtigen Schlusspunkt, den Speicher aus Backstein, die umlaufend schmale Fuge, in der sich die Menschen ans Geländer lehnen, und darüber den entrückten kristallinen Glaskörper. So funktionieren Wahrzeichen. Die Elbphilharmonie stellt die hier am Kai aufgereihte, meist gesichtslose Investorenproduktion wahrlich in den Schatten.
Durch die historische Speicherstadt und vorbei am mächtigen Bürokomplex des Verlagshauses Gruner+Jahr (der seit Dezember 2016 der Stadt Hamburg gehört) erreichen wir den Michel, das alte Wahrzeichen Hamburgs. Von der Aussichtsplattform des Kirchturms schauen wir nochmals zurück in Richtung Fluss zur Elbphilharmonie und stellen fest, dass im Abendlicht und in dieser Distanz die Punktwolken auf den Gläsern nicht mehr stören. Nun aber schimmert der Aufbau der Elbphilharmonie in dunklen Grautönen. Aus dieser Distanz und in diesem Licht zeichnet der Bau scharfe Konturen. Die verspielte Leichtigkeit ist wie weggeblasen, das Gebäude wirkt jetzt ernst und fast schon seriös. Aber halt – da lugt ja noch das weisse Dach zwischen den Spitzen hervor ...

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