Architektur ist ... in Bewegung

Daniel Klos, Johanna Benz (Illustration)

Parkour [par›ku:r] ist die Kunst, den schnellsten Weg von Punkt A nach Punkt B zu finden, dabei nur den eigenen Körper zu gebrauchen, und alle Hindernisse mit präzisen Bewegungen zu überwinden. Der Parkourläufer (Traceur) bestimmt seinen eigenen Weg durch die Stadt, anders als von Architekten und Planern vorgesehen.

Nachmittags am Platzspitz in Zürich. Ich treffe mich mit Matthias, einem Traceur. Warum macht er Parkour? «Ich mag die Bewegung, draussen, mit Freunden: Wir entdecken immer neue Orte und Herausforderungen, mitten in der Stadt.»
Wir passieren das neue Landesmuseum. Ob es ihm gefällt? «Ja, schon. Aber es ist etwas glatt, nicht so gut zum Klettern. In der Schweiz ist alles so gesäubert und fertiggedacht. Parkour braucht ein wenig Chaos: Strukturen, die keiner mehr will, Elemente, die wir für uns entdecken und weiterentwickeln können.»
Ich frage mich: Ist der Traceur so etwas wie Walter Benjamins Flaneur, oder der Situationist des 21. Jahrhunderts? Ist Parkour eine «emanzipatorische Rückeroberung» des öffentlichen Raums? Oder einfach Popkultur: Ein Mix aus Jackie Chan, New Age und Skaten ohne Board?
Theorie verlangt nach Praxis, also drehen wir eine Runde. Ich frage Matthias, ob er Parkour auch spontan in den Alltag einbaut. «Na klar, wenn ich zum Zug renne, oder einfach, um den Weg abzukürzen.» Er saust pfeilgerade den steilen Hügel hinunter, springt über eine Brüstung und landet sicher auf einem Mauerstück. Der Traceur bewegt sich so frei und unvoreingenommen wie ein Kind oder eine Katze: Mauern, Sitzbänke, Strassenlampen, Müllcontainer: alles ist zum Klettern, Springen, Greifen, Rennen …
In einer Seitenstrasse beim Central üben wir ein paar einfache Sprünge mit Markierungen und Bordsteinen. Ich beginne, meine Umwelt anders zu lesen: Die Stadt ist ein Spielplatz und will neu entdeckt werden! Matthias steigt ganz selbstverständlich auf Objekte, denen ich sonst ausweiche. Jetzt folge ich ihm. Ein kleiner Schritt für den Traceur, ein grosser für den Kolumnisten: Ich stehe auf der Stützmauer am Hirschengraben. Links ist sie kaum 50 Zentimeter hoch, rechts geht es 10 Meter in die Tiefe ! Es ist ein kontrolliertes Risiko, die Hemmung abzulegen und einen Tabu-Raum zu betreten.
Wir laufen die Rampe hinauf zur Uni. Die Lungen pumpen. Vor uns eine Terrasse mit Wasserbecken und zahlreichen Betonelementen. Von den Planern wohl «zum Verweilen» vorgesehen. Matthias sammelt sich und nimmt Anlauf: Er überspringt ein Element, landet auf dem nächsten, springt und greift nach einer Brüstung. Mit den Füssen stösst er sich an der Mauer ab und schwingt sich zu einer kleinen Aussichtsplattform hoch. Zwischen seinem Körper und der Stadt entwirft der Traceur neue, andere Räume: eine Architektur in Bewegung. Zwei Studentinnen drehen sich erschrocken um, andere klatschen. Ich muss erst mal nach einer Treppe suchen, um Matthias zu erreichen.
Wir schlendern zurück zum Bahnhof. An einer Ecke steht eine Gruppe von Jugendlichen. Einer ruft Matthias zu: «Hey, ich kenne Dich doch! Machst Du Parkour?» Die beiden umarmen sich wie Brüder. Der junge Mann entschuldigt sich: «Ich muss zurück zu meiner Gruppe. Ich leite das Training.» Konzentriert hören die Schüler ihrem Lehrer zu, der selbst fast noch ein Kind ist. Dann rennen sie los.
Wie viele laufen wohl gerade jetzt durch die Städte? Wie viele werden es morgen sein? Vielleicht wir alle. Architektur ist in Bewegung.

Daniel Klos (1980) studierte Architektur an der ETH Zürich und arbeitete bei Jean Nouvel und OMA / Rem Koolhaas. Seit 2013 leitet er zusammen mit Partner Radek Brunecký das Architekturbüro Klosbrunecký in Zürich und in Tschechien.

Johanna Benz (1986) lebt und arbeitet als Illustratorin und Graphic Recording Artist in Leipzig.

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