Architektur ist … Normcore

Daniel Klos

Architektur ist immer mehr als Pläne zeichnen und Gebäude errichten: Sie ist eine kollektive Disziplin, lebt gleichzeitig aber vom Engagement Einzelner, die mehr wollen als nur Bauen. In der Kolumne Architektur ist nicht Architektur nimmt uns Daniel Klos mit auf eine Expedition in wenig erforschte Gefilde und berichtet in jeder Ausgabe von einer neuen Entdeckung.

Zürich, durchschnittliche Temperatur, durchschnittlicher Tag. Ich sitze auf der Polyterrasse, neben mir ein Bleistift und eine Strichliste. Ich spähe. Keine fünf Minuten vergehen, da geschieht es von Neuem: Ein junger Mann in schwarzer Jacke, weissem T-Shirt, Levi’s 501 Jeans und grauweissen Sneakers eilt an mir vorbei. Hinter ihm geht ein anderer Mann, älter und etwas rundlich, in exakt gleichem Outfit. Die beiden beachten einander nicht. Es wirkt gespenstisch, wie ein Déjà-vu aus dem Film Matrix. Ich mache zwei Striche mehr auf meiner Liste.
Rückblende: New York, Oktober 2013. Die selbsternannte «Trendprognose-Agentur» K-Hole (eigentlich ein freies Künstlerkollektiv) veröffentlicht eine Art ironisches Lifestylemanifest. Youth Mode: A Report on Freedom ist ein Generalangriff auf Individualismus und Originalität. Was einst Freiheit verhiess, sei nämlich längst zum Zwang geworden: Jeder möchte ja möglichst anders und authentisch sein (Stichwort: Holzfällerbart, Nerdbrille, schräge Tattoos). Doch exzessive Individualität führe zu Isolation. Warum nicht einfach einmal wieder Mainstream? Anpassungsfähigkeit statt Exklusivität, Unauffälligkeit statt Inszenierung. Entspannt in der Masse mitschwimmen, statt immer neuen Trends nachzujagen: Das sei die neue Freiheit. Diese Strategie nennen die Künstler Normcore (normal + Hardcore).
Einige Monate später überträgt ein Artikel im New York Magazine den Begriff auf die Modewelt, und das Unheil nimmt seinen Lauf: Normcore heisst nun Massenware aus dem Supermarkt, je gewöhnlicher, desto besser. Shorts, Socken und Sandalen sind der letzte Schrei. Sogar Haute Couture beginnt Billigprodukte teuer zu imitieren. Die neue Normalität verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Schon sucht man passende Normcore-Musik oder Normcore-Autos. Erste Normcore-Architektur glaubt man in Los Angeles oder in Flandern zu entdecken (Arch+, Sommer 2015).
Heute, vier Jahre nach dem K-Hole-Report, ist nicht ganz klar: Ist Normcore Mode, Lifestyle, oder bloss eine Seifenblase? Gibt es überhaupt bekennende Normcorer, oder passiert der Wandel schleichend, unbewusst? Befinden wir uns gar an einer Zeitenwende? Ist Normcore der letzte, ultimative Trend? Design per Statistik: Google Search ermittelt für uns in 0.87 Sekunden, was die meist- verkauften Kleidungsstücke sind. Magazine lesen, anprobieren, auswählen? Alles passé. Normcore bestimmt unsere Uniform, die Camouflage, in der wir mit unserer Umwelt verschwimmen, befreit von jeglicher Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen.
Während Normcore in der Mode schon im Niedergang begriffen ist, bricht der Niedergang von Architektur durch Normcore vielleicht gerade erst an: Form follows normal. Mal ehrlich, wer hat bei den letzten paar Projekten kein einziges Mal gängige Referenzen studiert? Eben. Man orientiert sich an dem, was die anderen machen, um zu sehen, was akzeptabel ist. Ideen werden «geborgt» und oft unreflektiert wiederholt. Aber warum eigentlich nicht? Individualismus ist so was von gestern; Ctrl+C, Ctrl+V! Radikale, automatisierte Anpassung statt endloser Studien und Diskussionen: eine Zukunft ohne Entwerfen.
Ich setze mich ins Tram und fahre ziellos durch die Stadt. So viele neue Quartiere. Oder sind sie gar nicht neu? Diese Fassade habe ich doch schon ein paar Stationen früher gesehen. Normierte Gefässe für normierte Menschen. Mir wird etwas mulmig, während ich überlege, wo ich bin. Wird sich alles irgendwie immer ähnlicher? Architektur ist Normcore.

Daniel Klos (1980) studierte Architektur an der ETH Zürich und arbeitete bei Jean Nouvel und OMA / Rem Koolhaas. Seit 2013 leitet er zusammen mit Partner Radek Brunecký das Architekturbüro Klosbrunecký in Zürich und in Tschechien.

Johanna Benz (1986) lebt und arbeitet als Illustratorin und Graphic Recording Artist in Leipzig.

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