Lernmodule fürs Leben

Münchner Tagesschulen im Modulbausystem von Wulf Architekten

Ulrike Wietzorrek, Brigida González (Bilder)

Bei ihrer Schulbauinitiative setzt die Stadt München auf Ganztagsschulen und die Clustertypologie des «Lernhauses». Wulf Architekten entwarfen Modulschulen, die trotz starrem Raster ein räumliches Erleben möglich machen.

Die einzelnen Lernhäuser oder Cluster bilden eine in sich geschlossene Welt mit Rückzugsnischen, einem grossen Zentralraum und dem über Schiebetüren geöffneten Betreuungsraum. Die gewölbten
Deckenelemente sorgen für Raumwirkung.

Ob Berlin, Leipzig, Köln oder München: Deutschlands wachsende Städte stehen vor der Herausforderung, unter hohem Zeitdruck viele neue Schulen bauen zu müssen. Nachdem sich die baulichen Massnahmen lange Jahre auf energetische Sanierung und Mängelbeseitigung beschränkten, kommt damit wieder Bewegung in den Schulbau. Doch welcher Pädagogik sollen Schulen in Zukunft Raum geben?

Der PISA-Schock veränderte die Bildungsdebatte. Mit dem Blick nach Skandinavien öffnete man sich dem Konzept der Ganztagsschule. Bildungsforscher sind sich einig: Ganztagsschulen verbessern die individuelle Förderung, schaffen mehr Chancengleichheit und leisten einen wichtigen Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aus pädagogischer Sicht am wertvollsten ist der «gebundene Ganztag» (die für alle Kinder obligatorische Tagesschule), bei dem sich Lernen und Freizeit in einem rhythmisierten Tagesablauf abwechseln. Bis 2025 soll jedes Kind in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz erhalten, Schule wird damit zu einem Lern- und Lebensort.

Reines Weiss und für einen Modulbau ungewöhnliche Raumproportionen zeichnen das zentrale Treppenhaus aus.
Bild: Adolf Bereuter

Das Münchner Lernhaus

München begegnet dieser Entwicklung mit einer grossangelegten Schulbauoffensive; bis 2035 müssen etwa 50 Neubauten entstehen. Zusammen mit der Erweiterung und Modernisierung bestehender Einrichtungen erwartet man einen Investitionsaufwand von bis zu 10 Milliarden Euro. Das Besondere ist, dass all diese Bauten nach einem neuen pädagogischen und typologischen Modell, dem «Münchner Lernhaus»1 entwickelt werden.

Das ganzheitliche Konzept, das pädagogische, räumliche und organisatorische Strukturen verbindet, geht auf Münchens ehemaligen Stadtschulrat Rainer Schweppe und den Schulentwicklungsexperten Otto Seydel zurück. Es ist für den gebundenen Ganztag konzipiert, aber auf alle Schulformen anwendbar. In einer Grundschule umfasst ein solches «Lernhaus» vier Klassen, die zusammen mit einem eigenverantwortlichen Team aus Lehrern und Erziehern jahrgangsübergreifend eine Art kleine Schule innerhalb der grossen bilden. Räumlich wird ein Lernhaus in einem Cluster organisiert, der aus Räumen für Unterricht und ganztägige Betreuung um eine gemeinsame Mitte gebildet wird und dabei alle dienenden Funktionen integriert. Sämtliche Flächen stehen sowohl für den Unterricht als auch für Freizeit und Erholung zur Verfügung. In der Abkehr von der traditionellen Klassenzimmer-Flurschule zeigt sich ein neues pädagogisches Leitbild, das individuelle Förderung, eigenverantwortliches Lernen, Teambildung und eine vertiefte pädagogische Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden in den Vordergrund stellt.2

Die vier Grundschulen von Wulf Architekten sind das Ergebnis eines Realisierungswettbewerbs aus dem Jahr 2013. Die Stadt hatte ihn ausgeschrieben, um die schulische Versorgung in den geplanten Neubaugebieten Freiham, Prinz-Eugen- und Domagk-Park (vgl. wbw 10 – 2017 München) sicherzustellen und darüber hinaus eine Modulbauweise zu erproben, mit der künftig schneller und preiswerter geplant und gebaut werden kann.

Die einzelnen Lernhäuser oder Cluster bilden eine in sich geschlossene Welt mit Rückzugsnischen, einem grossen Zentralraum und dem über Schiebetüren geöffneten Betreuungsraum. Die gewölbten
Deckenelemente sorgen für Raumwirkung.
Bild: Brigida González

Serielle Modularität versus Raumwirkung

Nachzuweisen war ein modulares System, das sich in Kombination mit einem jeweils unterschiedlichen Raumprogramm an verschiedene Standorte und Schulgrössen anpassen lässt. Die vier Bauten wurden gleichzeitig realisiert und zum Schuljahr 2017/18 in Betrieb genommen. Mit der Teilnahme am Wettbewerb verpflichteten sich die Architekten, ihre Nutzungsrechte am modularen Entwurf an die Stadt abzutreten. Sie entwarfen quasi den Prototyp des Lernhauses, der im Anschluss an den Wettbewerb 2015 in ein Standard-Raumprogramm übersetzt wurde.

Modulbau lässt an seriell gefügte Raumzellen denken, im Extremfall an Containerbau. Typenschulen gab es auch schon in der DDR, nach rein funktionalen und wirtschaftlichen Kriterien entwickelt: seelenlose Lehranstalten in genormter Bauweise, massenhaft vervielfältigt. Vor diesem Hintergrund standen die Architekten dem Ansatz zunächst kritisch gegenüber. Die Lösung fanden sie in einer Architektur, die den Fokus nicht auf die Funktion legt, sondern auf das räumliche Erleben.

Kernstück des Entwurfs ist das Lernhaus-Modul, das auf einer einfachen, fast banalen Ordnung basiert. 16 Stützen spannen einen Grundriss auf, der aus neun gleichen, annähernd quadratischen Feldern gebildet wird. Vier Klassenzimmer besetzen die Ecken des Clusters. Über die Diagonale öffnen sie sich auf den zentralen «Marktplatz», der die Erschliessung aller Räume übernimmt und als multifunktionaler Ort der Gemeinschaft vielfältig bespielbar ist. Zwischen den Klassen liegt zu zwei Seiten je ein Raum für die ganztägige Betreuung, der sich mittels mobiler Trennwände mit der Mitte koppeln lässt und als zusätzlicher Lernraum zur Verfügung steht. Die dritte Seite besetzt ein Teamraum, dem seitlich zwei alkovenartige Lernnischen angelagert sind, die geschickt die WC-Anlagen verbergen. Die vierte Seite schliesslich ist ausgestanzt: ein Atrium belichtet alle innenliegenden Räume.

Wie oben im neu entstehenden Quartier Freiham können die Module winkelförmig kombiniert werden, sodass ein gefasster Aussenraum entsteht, dem die Fluchtbalkone räumliche Tiefe verleihen.
Bild: Brigida González

Gestapelte Nutzungen

Durch das Überkreuzen der verschiedenen Bereiche entsteht ein dichtes Beziehungsgeflecht. Zusätzlich gesetzte Türen erzeugen zirkuläre Wege und erweitern die Lesart der einzelnen Räume. Um die erforderliche Transparenz zu erhalten, sind die Wände teilweise verglast.

Die poröse Raumstruktur bietet eine hohe Varianz an räumlichen Situationen, der multioptionale Raum ist dennoch nicht beliebig. Das Lernhausmodul schafft Räume für Intimität und Rückzug ebenso wie für Offenheit und Begegnung. Gelernt werden kann hier allein, zu zweit, in Kleingruppen, mit der ganzen Klasse oder auch jahrgangsübergreifend. Die Erschliessungsflächen, von rein dienender Funktion befreit, erweitern die Lern- und Kommunikationslandschaft. Möglich wird das, indem der erste Rettungsweg in Form von Fluchtbalkonen nach aussen gelegt ist.

Die modulare Bauweise basiert auf einem einfachen konstruktiven System und ist dennoch spezifisch. Jeweils vier Stützen werden mittels eines durchlaufenden Trägers zu einem Rahmenwerk zusammengeschlossen. In Gegenrichtung überspannen langgestreckte Tonnenschalen aus Sichtbeton alle Räume: Sie sind das exzeptionelle Element des modularen Baukastens. Interessant sind diese Schulen gerade deshalb, weil ihre Architektur es schafft, den modularen Ansatz mit einer stimmungsvollen, beseelten Atmosphäre zu verbinden, sodass «erinnerbare Räume» entstehen. «Auf der einen Seite müssen die Räume des Lernhauses flexibel sein, auf der anderen Seite einen eigenständigen, heimatbildenden Raumcharakter aufweisen», erklärt Tobias Wulf.

Die Module lassen sich bis zu drei Geschosse stapeln und bei Bedarf auf andere Nutzungen wie Kindertagesstätte oder Sporthalle aufsatteln. Ein Sondermodul nimmt neben der Vertikalerschliessung auch übergeordnete Funktionen wie Verwaltung, Lehrerzimmer, Bibliothek und Fachräume sowie im Erdgeschoss Foyer, Mensa und Mehrzweckraum auf. Ansatz der Kombinatorik ist, dass das Lernhaus-Modul immer gleich bleibt, während sich das Sondermodul bedarfsabhängig anpassen lässt. Aufbauend auf einem orthogonalen Raster werden die Funktionen zu zwei bis dreigeschossigen Volumen zusammengefasst. Es ergeben sich langrechteckige oder winkelförmige Gebäude, die mal als Solitär freistehen, mal durch das Absetzen der Sporthalle zu einem kleinen Ensemble gruppiert sind.

Was zunächst so funktional daherkommt, entfaltet in seinem Inneren eine enorme räumliche Wirkung. Quasi als Zweispänner sind die Lernhaus-Module wie Wohnungen an die zentrale Halle angeschlossen. Der lichte, fast erhaben wirkende «Weissraum» steht im starken Kontrast zu der behütenden Atmosphäre der Lernhäuser. Das Eintreten wirkt bühnenhaft inszeniert, vierseitige Umgänge führen auf die freischwebende Treppenskulptur, die im Erdgeschoss in eine offene Raumfolge mündet, an die sich die zentralen gemeinschaftlichen Funktionen anlagern.

Für die Eingangszone im Erdgeschoss kommen Sondermodule zum Einsatz; sie ist auch für grössere Zusammenkünfte der Schule ausgelegt.
Bild: Brigida González

Monolithische Volumen

Interessant ist die Nutzungsmischung der hybriden Gebäude gerade dort, wo sich funktionale Verflechtungen mit dem Quartier ergeben. Das Schulhaus im Prinz-Eugen-Park integriert einen Bürgersaal, und alle Sporthallen stehen Vereinen zu Verfügung. Doch wäre noch viel mehr möglich! So könnten sich die Mensen nachmittags in Cafés oder die Bibliotheken zu offenen Lesezimmern wandeln, um zu einer lebendigen Quartierentwicklung in den grossen Neubaugebieten beizutragen. Aus Angst vor unliebsamen Eindringlingen bleibt der Zutritt jedoch selbst den Eltern verwehrt. Sicher sind es jeweils schöne Häuser geworden: feingliedrig, elegant, mit angenehmen Proportionen und sehr sorgfältig detailliert. Schade nur, dass sich die Architekten mit ihrer Idee dichter gestellter Holzlamellen nicht durchsetzen konnten. Diese hätten die Fluchtbalkone als zweite Hülle umzogen und je nach Blickrichtung transparent bzw. abschliessend gewirkt.3

Bei den beiden Schulen in Freiham lässt sich noch nicht ermessen, wie sie sich zukünftig in das städtische Gewebe einfügen werden. Noch fehlen ihre neuen Nachbarn, die Schulgebäude stehen inmitten von Baugruben und Brachfeldern. Den Bebauungsplänen ist zu entnehmen, dass ihnen ganz unterschiedliche Aufgaben zukommen. Mal sollen sie mit ihren Fassaden zur Platzbildung beitragen, mal als markanter Solitär den Übergang zur Landschaft formulieren oder eben nur beiläufig den Strassenraum begleiten. Genau hier zeigen sich die Grenzen des von der Stadt auferlegten Prinzips: Modulentwürfe sind in erster Linie von innen heraus gedacht. So spezifisch die räumliche Typologie der Lernhäuser auf eine neu gedachte Pädagogik reagiert und so charaktervoll die Räume sind, die die Architekten anbieten, so schwierig ist es, mit den Modulen eine passgenaue Lösung fur einen speziellen Kontext zu entwickeln.

Die flächige Ausdehnung der Cluster erzeugt hohe Gebäudetiefen, und durch Addition weniger Einheiten lassen sich unter der Massgabe eines günstigen Oberflächen-Volumen-Verhältnisses lediglich monolithische Volumen bilden, mit wenig Spielraum für das Einflechten wertvoller Freiräume – Pausenhof, Freisportanlagen oder Spielflächen. So bleibt den Planern auf Grund der strengen Vorgaben nicht viel mehr übrig, als diese zwischen Haus und Grundstücksgrenze um die Bauten herum zu organisieren. Mit der Einführung des «Münchner Lernhauses» im öffentlichen Schulbau ist allerdings viel erreicht. Die neuen Schulgemeinschaften fühlen sich in ihren Häusern sichtlich wohl. Eifrig experimentiert wird mit dem Mix der Klassen und den unterschiedlichsten Formen von Ganztagsschule, und nach und nach öffnen sich auch die Türen der Klassenzimmer – angeregt von den Möglichkeiten, die die neuen Räume bieten.

Ulrike Wietzorrek studierte Architektur in München, Barcelona, Mexico City und Los Angeles. Sie war bis 2009 Assistentin und Dozentin an der TU München, an der Universität Stuttgart und an der Hochschule Augsburg. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Buchpublikationen. Seit 2011 führt sie ein eigenes Büro in München.

1 Publikationen zum Thema siehe: www.ganztag-muenchen.de/das-muenchner-lernhauskonzept.
2 Zu den ersten Realisierungen nach dem Lernhaus-Prinzip gehörten die preisgekrönte Grundschule am Arnulfpark (Hess / Talhof / Kusmierz 2007 – 12) und das Gymnasium
Trudering (Felix Schürmann, Ellen Dettinger 2009 – 13).
3 Vgl. dazu die 2015 mit dem BDA-Preis ausgezeichnete Jakobusschule in Karlsruhe von Wulf Architekten (www.wulfarchitekten.com).

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