Schafherde zwischen Riesen

Das «Linke Ufer» als städtebauliches Experimentierfeld

Axel Sowa, Filip Dujardin (Bilder)

Lange Zeit nur wenig urbanisiert, wurde das westliche Ufer der Schelde Mitte des 20. Jahrhunderts zum Ort einer unvollständig umgesetzten städtebaulichen Utopie. Zwischen Hochhäusern und fliessenden Grünräumen haben nun die Architekten De Smet Vermeulen, De Vylder Vinck Taillieu und Tom Thys ein neues Zentrum geschaffen.

Inmitten der Hochhausscheiben des Europarks wirkt selbst das kräftige Volumen der neuen Alterswohnsiedlung klein.

Städte, deren Siedlungsflächen von breiten Flüssen durchströmt werden, haben für ihre Stadtviertel besondere Namen zu vergeben. So auch Antwerpen, die Stadt an der Schelde, deren westliche Hälfte schlicht «Linkes Ufer» heisst. Der Name ist eine moderne Erfindung, da Antwerpens Stadtbaugeschichte jahrhundertelang nur das rechte Scheldeufer betraf. Dort entstand neben dem Überseehafen ein städtisches Gemeinwesen, das im frühen 16. Jahrhundert zu einem der wichtigsten kommerziellen und kulturellen Zentren Europas aufstieg.

Auf der Landzunge westlich der Schelde wuchs keine Stadt, sondern weiterhin Gras und Gemüse: auf schlanken Flurstücken einer von Kanälen durchfurchten Polderlandschaft, die erst 1923 trocken gelegt und dem Antwerpener Stadtkörper einverleibt wurde. Über Jahrhunderte verbanden lediglich Fähren die historische Stadt mit dem kaum besiedelten Linken Ufer. Und noch 1914, als deutsche Armeen die Stadt belagerten und aus Zeppelinen bombardierten, ermöglichte nur eine provisorische Pontonbrücke die Evakuierung der Antwerpener Bevölkerung über den Strom auf das rettende Linke Ufer. Erst nach seiner Eingemeindung 1923 als Teil von Antwerpen und im Zug des infrastrukturellen Ausbaus der 1930er Jahre, insbesondere durch die Anlage von zwei Strassentunnels, entwickelte sich das Linke Ufer zum Stadterweiterungsgebiet.

Die Altersresidenz von De Vylder Vinck Taillieu erscheint im Mittelgrund zwischen der Kindertagesstätte und einem der
Europark-Hochhäuser.

Europark

Das Linke Ufer ist von einer durchweg monofunktionalen Geschichte geprägt. Es diente zunächst als strategischer Vorposten, dann als landwirtschaftliche Nutzfläche, bis schliesslich das 3000 Hektar grosse Areal in den 1930er Jahren zur Projektionsfläche funktionalistischer Planungen geriet. Gemeinsam mit Paul Otlet legte Le Corbusier 1933 den Plan einer Cité Mondiale für 150 000 Einwohner vor. Die moderne Stadthälfte sollte durch die finanzielle Beteiligung Deutschlands und der USA zustande kommen und an die globale Bedeutung Antwerpens im 16. Jahrhundert anschliessen.1 Der zweite Weltkrieg und die Zeit des Wiederaufbaus brachen den utopischen Elan. Erst in den frühen 1960er Jahren wurde die Idee der Grosssiedlung unter dem Namen Europark wieder belebt. Nach den Entwürfen der Architekten Aelbrecht, Brunswijck, Moreau und Wathelet entstanden 18 imposante Hochhausscheiben für insgesamt 6 000 Einwohner. Doch auch diese Planungen wurden nur unvollständig ausgeführt. In den frühen 1970er Jahren, als der öffentlich geförderte Wohnungsbau europaweit zum Erliegen kam, wurde das Bauprogramm des Europarks um wichtige Teile der sozialen Infrastruktur gekürzt – wie die Kindertagestätte, eine weiterführende Schule, das Schwimmbad und die Sportanlage.2 Das Linke Ufer blieb ein monofunktionales Fragment: eine Schlafstadt mit Strassenbahnanschluss.

Heroische Leere

Heute leben etwa 20 000 Antwerpener auf dem westlichen Scheldeufer. Der Weg vom historischen Zentrum aus ist tatsächlich nur drei Tramstationen lang, doch beim Auftauchen aus dem Scheldetunnel fühlt man sich auf eine windige Magistrale vom Schlag einer osteuropäischen Trabantenstadt versetzt. Und schon nach den ersten Gehminuten wird deutlich, dass die Urbanisierung des Linken Ufers kein konsistentes Muster aufweist. Viergeschossiger Zeilenbau entlang der breiten Verkehrsachsen trifft jäh auf das backsteinerne Idyll vorgartengesäumter Doppelhaushälften, die im Modus einer Gartenstadt adrett beisammen stehen. In ihrem Rücken bäumen sich die Wohnhochhäuser des Europarks auf. Dazwischen verlieren sich weitläufige Grünbereiche, deren gewundene Wege und sporadisch eingestreute Baumgruppen Spuren eines verzagten Versuchs sind, den standardisierten Massenwohnungsbau mit pittoresken Parklandschaften zu vermählen.

Die Kindertagesstätte von De Smet Vermeulen setzt mit ihrem geschwungenen Dach und einer gedrungenen Gestalt einen Kontrast zu den hoch aufschiessenden Bauten der Umgebung.

Neue Mitte

2005 lancierte der Vlaamse Bouwmeester,3 wie der Chefarchitekt der Region Flandern genannt wird, einen Aufruf mit der Frage, wie aus der geometrischen Mitte der Grosssiedlung ein Zentrum werden könne. Hieraus ist der 2006 verabschiedete und nun realisierte Masterplan der Architekten De Smet Vermeulen, De Vylder Vinck Taillieu und Tom Thys hervorgegangen. Das neue Siedlungszentrum solle, so die programmatische Absicht, Einrichtungen für die jüngsten und ältesten Bewohner des Linken Ufers bereitstellen sowie das Angebot an Einkaufmöglichkeiten für den täglichen Bedarf verbessern. Inmitten des heroischen Pathos spätmoderner Hochhausscheiben wirkt die neue Baugruppe aus Kindertagesstätte, Altersheim und Alterswohnungen so, als sei eine kleine, sehr agile Schafherde von Süden kommend in die gähnende Leere eingezogen. Die Bauten des neuen Zentrums wirken als Ganzes so unprätentiös wie ihre Bauteile, die ihre industrielle Provenienz nicht verbergen. Zinkgedeckte Satteldächer, Putz- oder Backsteinwände, Aluminiumfenster und Betonfertigteile erwecken den Eindruck, dass hier keine Schaufassaden, sondern vielmehr ein dörfliches, von Gärten durchsetztes Konglomerat entstehen sollte. Gleiches gilt für den Flachbau, der im Norden der neuen Mitte die schon vor vierzig Jahren versprochene Kindertagesstätte des Quartiers beherbergt. Eine feinmaschige Textur aus Zementfaserplatten, Wandfliesen und beige eloxiertem Blech alterniert mit bedruckten Glasflächen, hinter denen sich kleine Höfe verbergen. Die Qualitäten dieser eher zurückhaltenden und dezidiert kleinmassstäblichen Architektur werden erst beim Betreten der Räume offenbar.

Im Inneren der Kindertagesstätte von De Smet Vermeulen strukturieren Innenhöfe den Grundriss und sorgen für viel Tageslicht.

Raum für die Jüngsten – und für die Alten

Die Kindertagesstätte der Architekten Henk De Smet und Paul Vermeulen empfängt ihre Besucher und Nutzerinnen im grosszügigen, zweigeschossigen Vestibül, dem feierlichen Ort des morgendlichen Abschieds und nachmittäglichen Wiedersehens. Über die innenliegenden und zenital belichteten Flure des Flachbaus gelangen die Kleinkinder vom Krabbel- bis zum Vorschulalter in einen der sechs Gruppenräume, die jeweils aus einem Spielbereich, zwei Schlafsälen und einem offenen Servicebereich mit kleiner Küche bestehen. Jeder der Gruppenräume wird sowohl über einen Patio wie auch über die verglasten Aussenfassaden belichtet. Das begrünte Dach der Kindertagesstätte wölbt sich zu Mitte hin auf und bietet im Inneren eine Vielfalt von Raumeindrücken.

Sehr viel umfangreicher als die Kindertagesstätte ist die Wohnanlage für ältere und pflegebedürftige Menschen, ebenfalls von De Smet Vermeulen entworfen, die direkt südlich angrenzt. Ihr öffentlichster Bereich, in dem sich ein Restaurant, ein Friseurladen und andere Dienstleitungen befinden, grenzt an einen Vorplatz an der neu angelegten Quartierstrasse. Der im Stil einer Hotellobby gestaltete Empfangsbereich des Altersheims begrüsst die Eintretenden mit einer wandhohen Fotografie. Sie zeigt junge Menschen in der Badekleidung der 1950er Jahre und erinnert an die Jugendzeit derer, die nun hier wohnen. Die zentralen Elemente der Anlage sind helle, von Speise- und Aufenthaltssälen gesäumte Flure, die zur Mittagszeit voll quirligen Lebens sind. De Smet und Vermeulen haben für Menschen, deren Bewegungsradius nicht mehr wachsen wird, eine innere Urbanität erzeugt. Von den breiten Wohnstrassen zweigen intimere Gänge ab, die zu den Appartements führen. Hier ist beispielhaft dargestellt, was zu tun ist, um das Leben im Alter nicht zum Hindernislauf werden zu lassen.

Vis-à-vis von Kindertagesstätte und Altenpflegeheim, auf der nördlichen Seite der neuen Quartiersstrasse, steht die von Jan De Vylder, Inge Vinck und Jo Taillieu entworfene Wohnanlage für ältere Menschen mit geringem Betreuungsbedarf. Die Anlage, die dem 27-geschossigen Wohnhochhaus vorgelagert ist, besteht aus zwei Appartementhäusern, verbunden durch einen eingeschossigen Servicebereich. Dieser nördliche Abschluss der neuen Mitte eröffnet ein formales Spiel, bei dem Betonrahmen und Backsteinausfachungen zur wärmebrückenfreien Persiflage auf den niederländischen Strukturalismus kombiniert werden.

Die Seniorenwohnungen liegen direkt an der Bushaltestelle; formale
Spielereien mit Stahl- und Betonstützen sorgen vor Ort für Gesprächsstoff unter Architekten.

Das Modern-Erhabene

Spätestens seit den digitalen Montagen des Fotografen Andreas Gursky feiert die Architektur der 1960er Jahre ein ästhetisches Comeback. Auslöser hierfür ist nicht etwa die liebreizende Schönheit spätmoderner Gebilde, sondern vielmehr ein sprachloses Staunen über die brachiale Durchsetzung eines ebenso bauökonomischen wie baukonstruktiven Kalküls, aus dem atemberaubende Grossformen mit einer Myriade an standardisierten Fertigteilen hervorgehen konnten. Das hoch aufragende Modern-Erhabene birgt nicht nur in Gurskys Fotografien ein beträchtliches Affektpotenzial. Auch die Antwerpener Hochhausscheiben des Europarks verzwergen ihr Umfeld und verpflichten die Besucher, zu den baulichen Zyklopen aufzuschauen, deren stumme Präsenz weiterhin den zweckrational entfesselten Planungswillen vergangener Tage bezeugt.

Die bodenständige Mitte

Stünden die schauderhaft-heroischen Giganten nicht im Hintergrund der neuen Mitte des Antwerpener Europarks, wäre es denkbar, lediglich die programmatische Intelligenz der neuen Anlage, den sorgsamen Umgang mit Bewohnerinnen und Betreuern oder den Variantenreichtum der Fassaden zu rühmen. Offen bliebe jedoch die Frage nach dem Kontext, der an dieser Stelle nicht zu ignorieren ist, da alles, was hier gebaut wird, im Schatten mächtiger Hochhausscheiben steht. Gegen diese eindringliche Präsenz der Hochhäuser setzen die Architekten eine bodennahe Architektur. Statt aufgereihten Bäumen und Pkws wählten sie die Vielfalt von Bodenbelägen; an die Stelle von rousseauistischen Landschaftsbildern treten klar konturierte Plätze; statt respektvoller Distanz zu den Hochhäusern dominieren nun visuelle Erlebnisse auf Augenhöhe. All das führt zwar nicht zum Verschwinde der Hochhäuser, doch immerhin dazu, dass diese ihrer ästhetischen Vehemenz beraubt sind. Im unmittelbarsten Sinne des Wortes ist die neue Mitte des Europarks bodenständig. Alles in dieser neuen Siedlungsmitte handelt von Lebensanfang und Lebensende; von früher Kindheit und den letzten Jahren. Spielhöfe, Gärten und Plätze sind für all jene konzipiert, die noch nicht oder nicht mehr Treppen steigen können. Mit grösster Achtsamkeit haben es die Architekten verstanden, für die jüngsten und ältesten Bewohner des Linken Ufers einen zugleich würdigen und heiteren Rahmen zu schaffen.

Axel Sowa (1966) ist Professor für Architekturtheorie an der RWTH Aachen. Von 2000 – 07 Chefredakteur der Zeitschrift L’Architecture d’Aujourd’hui; Mitherausgeber von Candide, Journal for Architectural Knowledge.

1 Paul Otlet, La Cit. Mondiale d’Anvers, in: La Cit. – Revue mensuelle belge d’architecture et d’urbanisme, Brüssel, XI. Jahrgang, März 1933.

2 Dirk Schoofs, Licht, Luft en Ruimte. Van ideaalbeeld tot pragmatisme: een eeuw stedenbouwkundig denken toegepast op de Antwerpse linker Schelde-oever (Dissertation), (Zugriff am 20. Dez. 2015).

3 Zur Arbeit des flämischen Bouwmeesters ist im wbw-Heft zu Gent ein Gespräch mit dem damaligen Bouwmeester Peter Swinnen und seinem Adjunkt Stefan Devoldere publiziert: wbw 7/8 – 2011.

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