Susanne Brunner, Ulrike Gollnick und Valentin Groebner im Gespräch mit Lucia Gratz
Eine Restauratorin, eine Bauforscherin und ein Historiker arbeiten alle mit dem Faktor Zeit: Er ist Fluch und Segen.
wbw In Ihren Disziplinen haben Sie mit Zeit, meist mit der Vergangenheit zu tun. Wie kommen Sie mit dem Wert des Alterns in Kontakt?
Susanne Brunner Als Restauratorin bewerte ich Alterung nicht. Sie passiert einfach. Ich kämpfe oft um Akzeptanz für Spuren der Alterung. Gerade industriell hergestellte Materialien wie Kunststoffe werden als weniger wertige Werkstoffe angesehen, da angenommen wird, dass sie günstig herzustellen und leicht zu ersetzen seien. Auch beobachte ich: Wenn etwas schon beschädigt ist, sind Bauteile viel schneller Vandalismus ausgesetzt. Wenn etwas gebraucht und abgenutzt aussieht, verfällt sein Wert.
Ulrike Gollnick Die Kathedrale von Lausanne ist aus Sandstein, der teils brüchig ist. Dennoch würde niemand auf die Idee kommen, sie einzureissen. Auch Burgen erhält man aufwändig als Ruinen. Historischen Wohnhäusern aus Holz begegnet man hingegen oft mit weniger Hemmungen, sie abzubrechen. Der Wert des Alters ist im Bauen stark vom Material und dessen gesellschaftlicher Bewertung abhängig. So galten Holzhäuser im Mittelalter als Fahrhabe, Steinbauten verdeutlichten hingegen eine Ortsansässigkeit.
wbw Wann ist etwas alt?
Valentin Groebner Kann man alt und neu denn immer so strikt voneinander trennen? Damit etwas als alt erkannt wird, muss es von neuen Dingen umgeben sein. Die Gründerzeitquartiere im Wien der 1970er Jahre waren schwarz. Ich habe das damals nicht als Patina wahrgenommen – das war einfach etwas düster, eine ganz bestimmte Atmosphäre. Erst die Sanierung und der Kontrast mit Neubauten änderten das. Das alte Haus ist nichts Besonderes, solange es von Gleichen umgeben ist; so sind das Quartier und die Strasse eben. Alt als Label bezieht sich auf Relationen – das Ding und sein Nachbar, das Ding und der Betrachter.
Gollnick Es kommt auch immer auf den Gegenstand an. Eine Frucht ist schneller alt, als ein Stück Papier oder ein Stein. Sie tragen die Spuren der Zeit auf unterschiedliche Weise.
Groebner Man könnte auch anders fragen: Wann ist etwas neu? Es gibt ja Dinge, die keine sichtbaren Gebrauchsspuren haben. Jadeschmuck oder chinesisches Porzellan können nach mehr als tausend Jahren immer noch perfekte Oberflächen haben. Oder: Alles aus Silber oder Gold hat ein Gewicht eingeprägt. Dort ist oft nur das Material alt, aber nicht die Form – es war früher selbstverständlich, solche Gegenstände umzuschmelzen. Da würden wir nicht von Patina reden. Oder bei Gebäuden: Wie sieht man Bruchsteinwänden ihre Bauzeit an, wenn das Material an sich mehrere Millionen Jahre alt ist? Erst die Art der Fügung, wie der Stein behauen ist oder welche Schmuckelemente er trägt, verrät das Alter.
wbw Dem gegenüber steht oft das herausgeputzte Alte.
Groebner Renovierungen heben gerne das Alte hervor: Putz abschlagen, Mauerwerk zeigen – damit es richtig alt aussieht, wie im Mittelalter. Dieser Wunsch nach dem richtigen Alten ist aber modern. Barock und Renaissance waren anders – die gaben Altes bedenkenlos auf. Wenn wir von alt reden, haben wir oft die Brille des 19. Jahrhunderts, der Romantik und auch der Denkmalpflege auf. Es geht dann um Fragen des richtigen und des falschen Alten, wie in den Debatten um den Neu- und Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin. Wir wünschen uns Widersprüchliches: Bauten sollen zwar geschichtsträchtig aussehen, aber in top Zustand sein. Wieviel Vergänglichkeit wollen wir denn aushalten? Die Kathedrale von Lausanne darf nicht kaputtgehen, aber der Zerfall von aufgegebenen Industrieanlagen und Kinos störte bis vor Kurzem nur wenige.
wbw Wie steht es um die gesellschaftliche Akzeptanz: Wann soll etwas neu aussehen und wann darf es Patina haben oder gar zerfallen?
Brunner In der Restaurierung wird der Begriff der Patina oft ausgeweitet. Patina als Schicht, die sich auf einem Gegenstand angelagert hat, kann auch eine Schutzschicht für das darunterliegende Material sein. Diese soll nicht zu Schäden führen, weshalb wir sie zum Teil entfernen. Aber es gibt nicht nur Anlagerungen, sondern es geht auch um Abtragungen. Auch das ist Patina. Aber: Nach einer aufwändigen Sanierung möchte die Bauherrschaft auch sehen, dass etwas gemacht wurde – das ist oft der Tod der Patina.
Am Ende ist Altern Materialveränderung und dadurch unumkehrbar. Der Zerfallsprozess beginnt schon mit der Produktion und nicht erst wenn wir es sehen oder riechen. Dann ist es zu spät.
Groebner Der Umgang mit der Zeit ist paradox. Ist Zerfall weniger akzeptiert als Erhalt? Es ist in verschiedenen Kulturen und bei verschiedenen Dingen unterschiedlich. Autos etwa sind sehr persönliche Objekte, Statussymbole, Ersatzkörper. Aber sie gehen von Anfang an kaputt, mit zunehmendem Alter immer schneller. Daran sind wir gewöhnt und akzeptieren es: Die Schönheit von Autos ist eben nur auf Zeit verfügbar, sie ist ephemer. Bei Kleidern ist das noch extremer, die werden nach wenigen Jahren wieder entsorgt. Manche Konsumgüter dürfen also zerfallen. Bei Bauten ist das anders.
wbw Welche Möglichkeiten, Alterung bei Gebäuden aufzuhalten, sehen Sie?
Brunner Man kann Alterung nicht stoppen, man kann sie aber verlangsamen. Im Aussenraum ist alles ungebremst den Witterungseinflüssen ausgesetzt. Das Wissen um Materialien und ein Monitoring helfen, Erhaltungsmassnahmen zu planen. Bei Acrylglas ist allein mit regelmässiger Reinigung schon viel gewonnen. Für andere Materialien gibt es Schutzanstriche oder man pflanzt Bäume für die Verschattung.
Gollnick Betrachtet man die mittelalterlichen Holzbauten in Schwyz, fallen zwei Strategien auf: Das Konstruktionsholz konnte atmen, nahm Feuchtigkeit auf und konnte sie auch wieder abgeben. Und: Ein Dachüberstand schützte die Konstruktion.
Groebner Das andere ist Unterhalt und Wartung – man kann auch Arbeit dazu sagen. Um Alterung zu verlangsamen, muss man stetig Energie investieren.
wbw Was ist für Sie Patina?
Gollnick Patina ist der Beleg dafür, dass etwas gealtert ist und belebt wurde. Holz bekommt durch Benutzung und Witterung eine deutliche Patina, Fichte wird hellgrau, anders als Lärche, die zuerst grau, dann schwarz wird. Interessanterweise dachte man lange, dass die dunklen Holzhäuser nur altersbedingt so aussähen. Doch meist handelt es sich um einen Anstrich mit Russpigment. Dieser wurde nach Fertigstellung innen und aussen aufgebracht. Ob es dem Holzschutz diente oder Zeitgeschmack war – den Grund dafür kennen wir heute nicht mehr.
Brunner Wenn man von Patina spricht, ist damit oft eine Wertung verbunden. In meiner Arbeit setze ich mich neutral mit Alterungsspuren auseinander. Bei Acrylglas lassen sich aus den Spuren Rückschlüsse auf die Herstellung ziehen, auch auf Prozesse, die zu den sichtbaren Veränderungen geführt haben. An eingelagerten Originalplatten des Dachs des Münchner Olympiastadions zeigte sich etwa, dass die ursprüngliche Rezeptur durch Metallionen verunreinigt gewesen war. Es kam zu Trübungen. Der Kunststoff blätterte in Schichten ab. Alle Platten wurden nach 26 Jahren ausgetauscht. Auf den Kassenhäusern ist hingegen noch das Originaldach: Hier beginnt dieser Alterungsprozess erst jetzt. Die Bauteile sind Wissensspeicher für die jüngere Vergangenheit und ihre Technologien, über die wir kaum mehr etwas und vieles noch nicht wissen.1
wbw Auch für Sie ist das Baumaterial, das Sie in den alten Holzhäusern der Innerschweiz antreffen, Informationsträger. Was lesen Sie daraus?
Gollnick Im Talkessel von Schwyz stehen heute noch etwa 60 Bauten aus dem 13. und 14. Jahrhundert.2 Es war ein Bauboom damals. Wir wissen, dass das Holz aus unbewirtschafteten Wäldern mit 300-jährigen Bäumen oberhalb des Siedlungsgebiets kam, die ganz langsam gewachsen waren. Die Holzqualität ist ausgezeichnet, wie auch die Bautechnik der damaligen Zimmerleute. Sie berechneten etwa den Schwund des saftfrisch verbauten Holzes, um die unterschiedlichen Setzungen von stehenden und liegenden Hölzern im Gefüge aufzufangen. Durch «Drecknegative» lässt sich im Inneren an den unterschiedlich patinierten Stellen der Wände ablesen, wo sich welche Einrichtungen befanden und wie die Räume genutzt wurden. Verpflöckungen lassen sich aufspüren – also verzapfte Bohrlöcher im Holz, um Dinge mit materiellem oder spirituellem Wert zu verwahren. Je älter ein Haus, desto zahlreicher sind diese Zeichen und Verstecke. Es sind keine Schriftquellen aus dieser Zeit überliefert – deshalb sind diese Häuser so wichtig. Sie sind der materielle Beweis für die Vielschichtigkeit der damaligen Kultur.
wbw Man schätzt das Material als Ressource und was daraus entstanden ist. Oft lehnt die folgende Generation aber ab, was ihre Vorgänger geschaffen haben.
Gollnick An den Holzhäusern haben 26 Generationen über 700 Jahre hinweg hinzugefügt und ihr Haus à la mode ausgestattet, verschiedenste Schichten von Tapeten, Putz oder Täfer belegen das. Das war ganz normal. Man baute auch mit Stein weiter, ummantelte und verputzte die Holzbauten, um eine höhere Wertigkeit zu suggerieren. Im 15. und 16. Jahrhundert war das Holz knapp. Also nutzte man das bestehende Haus weiter, indem man es lediglich ergänzte, vielleicht war auch kein Geld für etwas Neues vorhanden. Heute höre ich immer wieder, man könne in diesen Häusern nicht mehr leben – und das, obwohl die meisten bis heute durchgehend bewohnt sind.
Groebner Linoleum und Teppichböden waren bis in die 1970er Jahre begehrt – heute werden sie rausgerissen, viele wollen so nicht mehr wohnen. Aber: Nicht der Gegenstand kommt aus der Mode, sondern unser Bezug dazu. Ich bin mir nicht sicher, wie nachhaltig es ist, wenn die Menschen alle 50 Jahre von etwas Neuem überzeugt sind. Welche Überreste früherer Epochen als erhaltungswürdig angesehen werden und in welchen Zustand diese Bauten von früher idealerweise zurückversetzt werden sollten, hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten stark verändert. Die blosse Vorstellung, dass antike Bauten so bunt wie Hindutempel waren, hat Winckelmann und Goethe ziemlich irritiert. Patina macht für mich das Vergnügen am Material aus und die Wertschätzung von etwas Hinzugefügtem, das am Original eben noch nicht da war. Vergangenheit ist interaktiv, deswegen bin ich neugierig, was in Zukunft mit Bauten passiert, die jetzt gerade gar nicht beliebt sind.
Brunner Mit der Nachhaltigkeitsbewegung liegt der Fokus heute sehr stark auf dem Material. Das Qualitätsvolle der Materialien wird geschätzt, dies hat aber zwei Seiten. PVC-Böden werden entfernt, obwohl sie pflegeleicht sind. Der alte Holzboden, der darunter zum Vorschein kommt, darf hingegen Risse und Spalten haben, in die der Staub fällt.
wbw Gerade bei gealterten Kunststoffen stellt sich die Frage: Wo liegt die Trennlinie zwischen Müll und Patinierung?
Brunner Natürlich spielt der Kontext eine Rolle: Gesetze, Geldmittel, Wissen oder vorhandener Platz. Die Grenzen der Akzeptanz sind bei Gebäuden schnell erreicht, wenn die Sicherheit bedroht ist. Auf dem Dach des Olympiastadions von 1972 etwa war die Trittsicherheit für Wartungsarbeiten nicht mehr gegeben. Das war ein limitierender Faktor der Erhaltung, der zum Austausch führte.3 Für die Forschung hingegen kann auch etwas wertvoll sein, das am Gebäude selbst nicht mehr gebrauchstauglich ist.
wbw Unsere Konsumgesellschaft lebt davon, dass Dinge weggeworfen werden, die längst nicht am Ende sind. Was bedeutet das für unsere materielle Kultur?
Brunner In PVC-Böden verwendet man heute andere Weichmacher, die die Gesundheit nicht gefährden sollen. PVC ist paradoxerweise deshalb wieder beliebt, da sich damit alte Holzböden imitieren lassen. In die Zukunft der Kunststoffe kann ich aber nicht schauen.
Groebner Darf ich Sie etwas fragen, Frau Brunner? Die Polycarbonat-Fassaden von Lacaton & Vassal zum Beispiel – sozial engagierte Architektur, mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet: Welche Erhaltungschancen haben die? Oder ist das ephemere Architektur? Wird man sie entsorgen, weil sie sich in Sondermüll verwandeln, oder ist das die nächste Herausforderung für die Materialforschung?
Brunner Als man das Dach des Olympiastadions baute, dachte man, das sei das Dauerhafteste überhaupt; von Alterung wusste man damals nichts. Es hängt von so vielen Faktoren ab, wie ein Material altert. Generell sind Kunststoffe organische Materialien. Im Aussenraum sind sie vielen schädlichen Einflüssen ausgesetzt wie UV-Strahlung, Wärme, Feuchtigkeit, und mit dem Klimawandel wird sich dies verstärken. Werden Kunststoffe an Bauwerken spröde, gehen Sicherheit und Wetterschutz verloren. Bisher geht man davon aus, dass Fassaden aus Polycarbonat immer wieder ersetzt werden müssen. Damit sind wir auch wieder bei der Frage nach dem alten Neuen und dem neuen Alten.
wbw Wenn wir nachhaltiger werden und weniger wegwerfen wollen, sind Bauweisen notwendig, die dies auch zulassen. Sind Materialien oft auch dauerhafter, als wie wir sie verwenden?
Brunner Am Felix-Wankel-Institut in Lindau gibt es in den runden Ecken der Fassade gebogene Acrylglasscheiben, die mit der Zeit ihre Transparenz und damit auch einen Teil ihrer Funktionalität verloren haben. Heute ist es günstiger, gebogene Ersatzscheiben einzusetzen, die mechanisch unter Spannung stehen. Schade – denn dadurch ist vorprogrammiert, dass diese nicht von Dauer sein werden.
Auch das Recycling von Kunststoffen im Baubereich ist immer noch schwierig. Bei Acrylglas geht das nur bei frischem Material, also bei Resten der Produktion, nicht bei gebrauchtem. Die Forschung dazu läuft, um Altes wiederzuverwerten.
Groebner Könnte es sein, dass Architektur erst dann geschätzt und in ihrem Wert erkannt wird, wenn sie unübersehbar kaputtzugehen beginnt? Andererseits: Wenn alles erhalten bliebe, dann wäre es zu selbstverständlich. Kostbarkeit wird durch Zerfall und Verschwinden hergestellt. Wenn wir vierzigtausend Holzhäuser aus dem 13. Jahrhundert hätten, würden wir da nicht einfach mit den Achseln zucken?
Gollnick Da stimme ich nur teilweise zu, denn das blosse Alter ist durchaus entscheidend. Wenn man sieht, dass das Material noch existiert und sogar besser als neuere Hölzer ist und dass man darin wohnen kann – dann hat das einen grossen Wert. Blendet man die historische Bedeutung der Häuser mal aus, so geht es hier um wirkliche Nachhaltigkeit.
Susanne Brunner (1982) ist Dipl.-Restauratorin Univ. und promoviert an der Professur für Neuere Baudenkmalpflege der TU München. Sie hat sich auf den Erhalt von Kunststoffen und modernen Materialien spezialisiert.
Ulrike Gollnick (1968) ist Bauforscherin und Kunsthistorikerin. Seit 2015 führt sie ihr eigenes Büro für Bauforschung, Archäologie und Beratung in Schwyz mit Schwerpunkt auf der Untersuchung von Holzbauten der Innerschweiz.
Valentin Groebner (1962) ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. 2023 erschien sein Essay «Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen» bei Konstanz University Press.
1 Denise Madsack, «Acrylglas in der Architektur. Das Münchner Olympiadach von 1972», in: Zeitschrift für Kunst und Kulturgut 24 (2010), H. 2, S. 292 f.
2Ulrike Gollnick, «Die mittelalterlichen Blockbauten im Dorfbachquartier. Bauforschung, Dokumentation, Befunde», in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte ZAK Band 73 2016, Heft 4, S. 261 – 288.
3Susanne Brunner, Marisa Pamplona, Andreas Putz, «Zum Wert von Polymethylmethacrylat. Erhaltungsstrategien für transparentes Acrylglas im Außenraum», in: Die Denkmalpflege, 2/2020, S. 155 – 163.
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