Artikel aus wbw 1/2 – 2024

Richtig verdichten

Ein Besuch auf den Baustellen der Innenentwicklung

Roland Züger

Das Schweizer Stimmvolk hat sich für das revidierte Raumplanungsgesetz ausgesprochen. Seit 2014 ist es in Kraft – eine Epochenwende. Zehn Jahre danach stellen wir fest: Der Weg ist harzig. Warum eigentlich?

Aus der Beschäftigung mit der Innenentwicklung lassen sich zwei Botschaften ableiten: eine gute und eine schlechte. Die gute zuerst: Das Potenzial ist gross. Endlich wird die Zersiedelung angepackt, das Wachstum in Bahnen gelenkt. Mit der Forderung der Entwicklung nach innen ist ein Abschied vom Paradigma der Moderne verbunden, eine Umkehr unseres tradierten Verständnisses von Wachstum und Planung. In der Fachwelt ist von einer «Epochenwende» die Rede.

Nun die schlechte Botschaft: Bei der Umsetzung gibt es einige Hemmnisse. Da wären zum Beispiel die erhöhte Planungskomplexität zu nennen, Vorschriften zum Landschafts-, Ortsbild- oder Lärmschutz, Interessenskonflikte mit der Forderung nach mehr Grün, Massnahmen zur Biodiversitätsförderung oder das teure Bauland.

Innenentwicklung ist knifflig und geprägt von vielen Zielkonflikten. Einige Gemeinden fühlen sich auch schlicht alleingelassen mit ihrer Ortsplanungsrevision1 oder sind verdichtungsmüde, wie Florian Inneman vom Raumplanungsverband Espace Suisse vermerkt.2 Die Frage lautet also: Wie kann bei einer derart komplexen Ausgangslage die Innenentwicklung gelingen? Wir schauen aus vier Richtungen auf die Herausforderungen.

«Wo, Wo, Wonige?»

Ein zentraler Knackpunkt der Innenentwicklung betrifft die Wohnungsknappheit. Angeheizt vom Anlagenotstand, ist zwar in den letzten Jahren viel gebaut worden, aber oft an der falschen Stelle. So sind Wohnungen an Innenstadtlagen, um die es in diesem Heft geht, nach wie vor ein rares Gut. Wie können hier die Menschen wohnen bleiben und weitere hinzustossen, angesichts der Prognose zum Bevölkerungswachstum.3 Parallel mit den neuen Wohnungen stieg aber auch deren Grösse an. Das Mehr an Quadratmetern wird teuer vermietet, aber oft nicht von einem Mehr an Personen genutzt. Ein Problem der fehlenden Wohnungen liegt somit an unserem Wohlstand. Und so wird die Wohnungsnot politisch.

Vor rund zehn Jahren hat man in den Debatten zum Wohnungsbau in Zürich das Problem der zu grossen Neubauwohnungen erkannt.4 Seitdem sind in Wettbewerben, zumindest in jenen von der Stadt Zürich und den Genossenschaften, wieder «nur» 100 Quadratmeter die Zielgrösse für eine 4-Zimmerwohnung statt 120. Doch zum einen hat (Grundriss-)Qualität nichts mit Grösse zu tun, zum anderen teilen die privaten Entwickler dieses Bestreben kleinere Wohnungen zu bauen kaum, ausser es handelt sich um Mikro-Appartements mit hoher Rendite.


Beispiel: Quartierzentrum Wesemlin, Luzern 2016–22

Im Alter das zu gross gewordene Haus verlassen und trotzdem im Quartier wohnen bleiben; das ist hier möglich. Es beinhaltet neben Einkaufsmöglichkeiten und Gesundheitseinrichtungen auch 24 altersgerechte Wohnungen. Entworfen von Konstrukt für die katholische Kirchgemeinde, erhöht das neue Angebot die Wohnmobilität im gut durchgrünten Quartier auf dem Hügel im Norden der Stadt, das von einer stark überalterten Bausubstanz geprägt ist. Das eröffnet Möglichkeiten für junge Familien einzuziehen, so das Viertel dichter zu bewohnen oder auch baulich zu erneuern, ohne die Alteingesessenen zu verdrängen.

Wohnungsbau fängt bei Wohnpolitik an

Wenn in den Bestandswohnungen mehr Menschen unterkämen, könnte die ökologischste aller Verdichtungen gelingen: ganz ohne Neubau. Deshalb ist die zentrale Frage: Wie kann die Belegungsdichte gesteuert werden? Städte oder Genossenschaften als Vermieterinnen kennen eine Belegungsvorschrift: In der Regel entspricht die Zimmerzahl der Wohnung der Anzahl Personen plus 1. Auch diese Vorgabe teilen längst nicht alle Anbieter. Hinzu kommt das Problem deren konsequenter Umsetzung.

So bleiben immer weniger Menschen in ihren zu grossen Wohnungen. Die Crux dabei: Die alte, grosse Wohnung ist meist günstiger als eine neue, kleinere. Wer zieht da schon um? Deshalb ist dringend zu überlegen, wie die Wohnmobilität erhöht werden könnte.5 Um Anreize und Regulierungen kommen wir wohl nicht herum, wenn wir ernsthaft den Wohnflächenverbrauch senken wollen.

Gerade in den am wenigsten dicht besiedelten Quartieren mit Einfamilienhäusern ist die Mobilisierung ein drängendes Problem – aber auch eine grosse Reserve. Ein Rechenbeispiel: Bei einer Million Einfamilienhäuser, in denen statt 4 nur noch 2,7 Menschen wohnen, entsteht derzeit eine Wohnraumreserve für 1,3 Millionen Menschen.6 Allein daran zeigt sich, wie verheerend es ist, wenn Einfamilienhausgebiete raumplanerisch nicht ernst genommen werden, wie in den vergangenen Jahren.7


Beispiel: Aufstockung, Genf 2018–23

Neuigkeiten aus Genf, der Hauptstadt der Aufstockungen: An der Avenue Wendt haben Lacroix Chessex einem Bau aus den 1950er Jahren zwei Geschosse aus Holz aufgesetzt. Sie bieten Platz für 1 100 Quadratmeter Wohnfläche. Der Nachbarbau war bereits aufgestockt. Nun ist die Kontinuität der Traufkante wiederhergestellt. Gestalterisch unterscheiden sich die Bauabschnitte jedoch erheblich. Statt das Vordach zu zerstören, haben es Lacroix Chessex zum Thema gemacht und die Horizontale betont. Dabei liegen Wohnräume und Küchen zur Strasse, die Schlafzimmer zur ruhigen grünen Rückseite. Aus den vorgelagerten Balkonen eröffnen sich Blicke in den Jura und die Alpen.

Über den Dächern zu Hause

Eine weitere Möglichkeit, Wohnfläche zu schaffen, liegt in der vertikalen Verdichtung. Vielfach steht eine energetische Sanierung sowieso ins Haus: Warum nicht gleich einige Etagen aufstocken? Das Grundstück ist schon da, erschlossen und bereits bezahlt. Diese Einsparung kompensiert die höheren Baukosten eines Umbaus, ermöglicht vielleicht gar preisgünstiges Wohnen.

Gute Beispiele finden sich in Genf, der Schweizer Aufstockungs-Hauptstadt. Seit der Aufzonung 2008 konnte man dort in Kombination mit Vorschriften zur Nutzung (ausschliesslich Wohnen) und mit einer zehnjährigen Mietpreisbindung der Spekulation vorbeugen. Zudem wacht eine Gestaltungskommission über die städtebauliche Qualität. So lernt man von Genf erstens, dass sich Aufstockungen nicht für jedes Quartier gleichermassen eignen. Gerade in Vierteln der Gründerzeit mit ihren geschlossenen Blockrändern sind sie weniger, in der Stadt des 20. Jahrhunderts mit ihrer offenen Bebauung besser geeignet. Zweitens lernt man, dass sich die Grenzkosten für eine Aufstockung erst ab mehreren Geschossen einspielen. So sind in Genf auch schon Beispiele mit zwei oder drei Geschossen realisiert worden – mit guter Wohn- und Stadtraumqualität sowie Massnahmen zum Mieterschutz. Kurzum: Genf setzt Massstäbe.8

Beispiel: Dialogplatz, Winterthur 2019–25

Als Basis der Planung dienten Workshops mit der Winterthurer Bevölkerung. Inspiriert vom Jardin du Luxembourg in Paris, schlugen Vogt Landschaftsarchitekten im Masterplan von Gigon Guyer 100 hitzeresistente Bäume für den 6 000 Quadratmeter grossen Platz vor. Darauf befinden sich eine Spielfabrik mit Kieswerk, Kranbahn, Pumpenhaus, Fuhrpark und ein Pavillon als gedeckter Aussenbereich. In einem städtebaulichen Vertrag ist geregelt, dass Implenia als Entwicklerin des Areals Lockstadt auch Freiräume wie Strassen und Parks errichtet und der Stadt Winterthur einen Teil der Unterhaltskosten als Mehrwertausgleich schenkt.

Freiräume an der Wurzel packen

Aufstockungen tangieren ausserdem den Freiraum nicht – oder höchstens während der Bauzeit. Wie bei Bestandsbauten als Sockel einer Aufstockung können auch alte Bäume bleiben. Beides sind Träger von Erinnerungen. Das ist auch der Biodiversität über und unter der Erde zuträglich. Oft werden bei Ersatzneubauten die Häuser dicker, und der Freiraum gerät in die Knautschzone der Verdichtung, die meist der Logik der Gewinnmaximierung und weniger der des Städtebaus folgt. Umgekehrt steigen die Ansprüche an den Freiraum, weil ihn mehr Menschen nutzen. Damit sind nicht nur Parks gemeint, auch Strassenräume sind im Auge zu behalten. Glücklicherweise muss heute der Einbezug von Landschaftsarchitektinnen nicht mehr breit diskutiert werden. Aber wäre es aufgrund der Klimaerwärmung nicht angebracht, auch Biologinnen und Experten des Regenwassermanagements zur Konzeptphase einzubeziehen? Hochwertig gestaltete Freiräume sind Sympathieträger bei Verdichtungsprojekten und sichern deren Akzeptanz.

Mit dem Augenmerk auf die Grünräume mit kühlenden Bäumen lässt sich auch der Hitze und dem Biodiversitäts-Notstand begegnen. Sind die Grünzonen gut vernetzt, fühlen sich Menschen und Tiere wohl. So gilt der Baumpflanzung im Städtebau heute besonderes Augenmerk. Raum beansprucht ein Baum nicht nur auf Augenhöhe, sondern auch für seine Wurzeln tief im Erdreich. So ist dem unterirdischen Städtebau ausreichende Beachtung zu schenken. Planerisch könnten Regulierungen zur Begrenzung unterirdischer Bauten durch eine Unterbauungsziffer (oder konkret durch Reduktion der Pflicht-Parkplätze) viel bewirken.

Bei einer anderen Auslegung der Grünflächenziffer entstünden zudem abwechslungsreichere Freiräume. Könnten begrünte Fassaden nicht zumindest anteilsweise zur Grünfläche gerechnet werden? Das kompensiert zwar nicht den vielleicht spärlichen Freiraum, hält aber beim Stadtumbau mit dicht besetztem Untergrund und deshalb fehlenden Bäumen Optionen offen, ihn zu begrünen. Das gelingt bereits mit einfachen, bodengebundenen Systemen, die wenig Unterhalt benötigen und dennoch die Aufenthaltsqualität verbessern.

Regelwerke nutzen, Qualitäten diskutieren

Ein zentraler Hebel bei der Innenverdichtung mit Blick auf den Freiraum ist die Mehrwertabschöpfung. Als Instrument kennen es einzelne Städte schon lange, Basel seit 1977. Das Geld fliesst dort in die Aufwertung von Grünräumen, was nicht nur den Bewohnenden, sondern auch den Entwickelnden zugutekommt. Sie gilt als «Schmiermittel der Verdichtung ».9 Höchst fragwürdig ist es deshalb, dass sie in der nächsten Etappe der Gesetzesrevision wieder in Frage gestellt wird. Sicherlich laufen nicht alle Prozesse bei der Umsetzung der Mehrwertabschöpfung optimal, die Rechnerei ist kompliziert, und die Umsetzung unterscheidet sich von Gemeinde zu Gemeinde. Aber in Basel zeigt sich die mächtige Wirkung des Instruments: Von 2000 bis 2018 flossen 148 Millionen Franken in den Fonds, mit dem nun auch Massnahmen zur Hitzeminderung in den Freiräumen gefördert werden.10

Mit der Freiraumgestaltung eng verbunden ist die Debatte über Qualität in der Innenentwicklung. Doch zu Qualitäten ist im Raumplanungsgesetz wenig Konkretes zu finden – und mit enormem Interpretationsspielraum. Qualitätssichernde Verfahren sind gefragt. Aber Matthias Howald vom Bundesamt für Raumentwicklung ist nicht pessimistisch. Er sieht in den acht Kriterien aus dem Davos Qualitätssystem für Baukultur von 2021 eine nützliche Grundlage, um Qualitäten zu diskutieren.11 Müssten die acht Kriterien Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit nicht für jede Raumplanung ebenso gelten wie für die Architektur? Beide zielen schliesslich auf Beiträge zu einer hohen Baukultur.

Anderes Mindset und Prozessorientierung sind gefragt

Mit einer buchstabengetreuen Umsetzung des Gesetzes ist noch keine umfassende Qualität erreicht. Helfen dürfte etwas mehr Mut fürs Experiment, auch in der Planung. Ansätze dazu gibt es einige.12 Mit Experimenten in der Raumplanung lassen sich auch die Prozesse üben. Bei der Innenentwicklung planen wir an Orten, die bereits baulich und sozial besetzt sind. Für diese Aushandlungsprozesse braucht es eine grundlegende Veränderung im Mindset von Architekturschaffenden und Planenden: ein Verständnis für Prozesse mit offenem Ausgang, für Partizipationsverfahren und eine gute Vermittlung. Genauso braucht es auch Demut für die eigene Position als Gestaltende. Entscheidend ist nicht primär die bauliche Dichte, sondern eine Dichte an Nutzungen, Einwohnerinnen und Beschäftigten, Ereignissen, Möglichkeiten und Atmosphären.

Planung wird komplexer und diverser. Um solche Prozesse zu leiten, braucht es Zielbilder und Qualitätsanforderungen. Mit ihrer Kreativität, sich unsere Welt von morgen vorzustellen, sind Architekturschaffende eigentlich zentral für diese Aufgabe. Ihr Vermögen, die Zukunft in Pläne und Bilder zu fassen, ist ein Gewinn für die Innenentwicklung. So liesse sie sich als Chance und nicht als Problem begreifen.

1 Die eidgenössischen Räte beschlossen 2016 den Impuls Innenentwicklung. Über das bis 2025 verlängerte Programm sollen vor allem Städte und Gemeinden Hilfe bei der Siedlungsentwicklung nach innen erhalten: Beratung, Beispiele: www.espacesuisse.ch (abgerufen am 21.11.2023).

2 Einige Gedanken stammen aus einem Gespräch mit Florian Inneman, Siedlungsberater bei Espace Suisse, Matthias Howald, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Raumplanung ARE, und Caspar Schärer, Geschäftsführer BSA, am 7.11.2023.

3 In Zürich sollen allein 2050 110 000 Menschen mehr leben als heute. Das entspricht der Grösse von Winterthur: www.zh.ch (abgerufen am 21.11.2023).

4 Eine Publikation der Stadt Zürich zeigte, dass Ersatzneubauten zwar doppelt so viel Wohnfläche generieren, aber nur 20 Prozent mehr Menschen dort wohnen als in den abgebrochenen Bauten zuvor. Amt für Städtebau, Stadt Zürich, Dichter, Zürich 2012.

5 Zu Anreizen wie einer Lenkungsabgabe oder dem in Basel praktizierten Bonus-Modell vgl. Lorenz I. Zumstein, Wohnmobilität – die bessere innere Siedlungsentwicklung? Thesis MAS Raumplanung ETH Zürich, 2021.

6 Die Belegungsdichte in Einfamilienhäusern 2022 beträgt 2,7 Personen, nach Bundesamt für Statistik – Volkszählung, Gebäudeund Wohnungsstatistik. Vgl. Belegungsdichte auf: www. bfs.admin.ch (abgerufen am 21.11.2023).

7 Eine der wenigen Ausnahmen ist eine Studie der ZHAW fürs Bundesamt für Wohnungswesen: BWO (Hg.), Schritt für Schritt. Die Transformation von Einfamilienhausgebieten gestalten, ZHAW IUL 2020. Mit dem Fokus auf dem Umbau von Einfamilienhäusern s. www. metamorphouse.ch (abgerufen am 21.11.2023).

8 Den Aufstockungen hat die Redaktion der Zeitschrift Tracés im Oktober 2023 eine eigene Ausgabe gewidmet. Zu Genf und seinen Aufstockungen siehe auch wbw 4 — 2023 sowie wbw 1/2 — 2017.

9 Samuel Kissling, zitiert nach: Gabriela Neuhaus, «Schmiermittel der Verdichtung », in: Hochparterre 11/2023, S. 42.

10 Ein weiteres Instrument wäre eine sogenannte Stadtrendite, wie sie in Basel heisst. Diese mit den Investoren ausgehandelten Mehrwerte gehen über die gesetzlich verankerte Mehrwertabschöpfung hinaus. Vgl. Vortrag von Beat Aeberhard bei der RZU am 20.11.2023: www.rzu.ch ( abgerufen am 21.12.2023).

11 S. www.bak.admin.ch (abgerufen am 21.11.2023).

12 Jüngst hat dies eine Publikation des BSA gezeigt: BSA/FAS (Hg.), Experimentelle Planung – Neue Möglichkeitsfelder, Zürich 2023.

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