Artikel aus wbw 3 – 2024

Werft am Gleismeer

Einbauten Gebäude Q auf dem Areal Werkstadt in Zürich ­Altstetten von Baubüro In Situ

Lucia Gratz, Martin Zeller (Bilder)

Geht es um die Umwandlung histori­scher Industrieareale, muss Wert­schöpfung breiter gedacht werden. Neben einer ökonomischen Zielset­zung braucht es auch ein Bekenntnis zu kulturellen, ökologischen und gesellschaftlichen Werten, um Areale nachhaltig in die Zukunft zu führen. Ein Pionierprojekt der urbanen Produktion zeigt, wie aus diesem Grund­satz Mehrwert entstehen kann.

Schnurgerade führt die Hohlstrasse im Zürcher Westen parallel zu den Gleisen stadtauswärts nach Altstetten. Der Streifen Land zwischen ihr und dem Gleisraum ist einer der dynamischsten der Stadt. Hier entwickeln die SBB ihre Areale, eins davon ist die Werkstadt. Als Teil der einstigen Hauptwerkstätten liegt sie wie eine Werft am Gleismeer, ist sie doch mehr Teil der Schienenstränge als der Stadt. Offen zu den Gleisen, zweigen dort Fährten ab, die in den Hallen enden. Stadtseits begrenzt ein Zaun, der die lange Kastanienallee begleitet, das Gelände.

Die Bundesbahnen übernahmen 1901 mit der Nordostbahn auch deren Vorhaben einer Reparaturwerkstätte am Standort Altstetten. Neun Jahre später nahm sie den Betrieb auf. Inzwischen sind die Zugkompositionen 200 Meter lang und die gut hundertjährigen Hallen zu kurz für sie. Die SBB-Flotte wird in Herdern am anderen Gleisufer gewartet. Manche der Hallen an der Hohlstrasse werden weiterhin für die Reparatur des älteren Rollmaterials genutzt, auch Loks bringt man hier auf Vordermann. 2016 hat der Transformationsprozess des westlichen Abschnitts der Hauptwerkstätten begonnen, der seither Werkstadt Zürich heisst. Hinter den hellen Backsteinfassaden der Gründerzeit scheint sich die Stammnutzung fliessend in neue urbane Produktionsstätten zu verwandeln, denn harte bauliche Brüche sieht man keine. Stadtauswärts begrenzen die im Herbst 2022 bezogenen Letzitürme mit ihren 177 Wohnungen und 75 Metern Höhe das Areal. Die Hochhäuser von Armon Semadeni stehen für das gewohnte Bild des SBB-Städtebaus an zentralen Lagen entlang der Gleise. Ungewohnt hingegen ist die Herangehensweise des Konzerns auf dem Werkstadt-Areal: Langfristig, bestandschonend und dialogisch ist dessen Entwicklung konzipiert. Es soll sich zur Stadt hin öffnen und gewerblicher Innovation Platz bieten. Exemplarisch zeigen dies die jüngst bezogenen Produktionsräume des Gebäudes Q. Die Halle der früheren Wagenwerkstätte I ist einer der Schlüsselbauten des historischen Ensembles.

Am Rad der Zeit drehen

Die als Industrie- und Gewerbezone I deklarierte Werkstadt war anfänglich eine Knacknuss: Für Wohn- und Gewerbenutzung wusste die SBB Grundstücke anzupacken, auch für Wohnen allein, aber für Produktion mit Dienstleistungsanteil? Das Know-how dafür fand sie bei Denkstatt sàrl. Bekannt für seine Erfahrung in der nachhaltigen Umwandlung früherer Industrieareale, begleitete das Büro die Nutzungskonzeption. Heute trägt das Areal seine Handschrift: Die Transformation soll offenbleiben, war eine ihrer Maximen. Zusammen mit KCAP Architekten und Studio Vulkan erarbeiteten sie einen interdisziplinären Masterplan, der es ermöglicht, Gebäude und Freiraum stufenweise, über einen längeren Zeitraum hinweg nachhaltig zu entwickeln.Auch war es wichtig, mögliche Nutzungen auf die baulichen Gegebenheiten abzustimmen. Vor allem koordiniert das Planungsinstrument verschiedene Interessen und liefert der Grundeigentümerin und den Behörden so Verbindlichkeiten.

Mit von der Partie war auch die Denkmalpflege, denn das Areal der früheren Hauptwerkstätten firmiert im überkommunalen Inventar. Die baulichen Veränderungen der letzten 120 Jahre sind überschaubar, vieles blieb, wie es war, die dichte Aura der industriellen Fertigung ist in den Räumen noch präsent, dazu das Staunen über die Dimension der Hallen. «Sie machen das Areal einzigartig», weiss auch Barbara Zeleny, Leiterin Anlageobjekte Entwicklung Urban bei den SBB. Neben den drei gros- sen Hallen sind auf dem Gebiet der Werkstadt eine Schiebebühne für Waggons, eine Absauganlage, die Verwaltungsbauten, die Heizzentrale und das Wohlfahrtshaus erhalten: Wasch- und Verpflegungsmöglichkeiten zeugen von der Arbeitervorstadt, die Altstetten einmal war und einem Milieu, das es so nicht mehr gibt. Lukas Auf der Maur von der Kantonalen Denkmalpflege sagt: «Für den Erhalt ist die Erlebbarkeit dieser Welt wichtig», und meint damit die materielle Welt, den Abdruck der gelebten Zeit in ihr, wenn auch die Menschen längst andere sind, die hier ein und aus gehen. Das Rad der Zeit dreht weiter, es geht um Transformation: Mit einer Schutzverordnung und im Masterplan wurde definiert, was erhalten bleibt, doch auch, wo sich das Areal entwickeln soll, mit Auf- und Einbauten in den Hallen, mit zusätzlichen lückenfüllenden Baukörpern entlang der Hohlstrasse und drei Hochpunkten an den Gleisen. 

Schlüssel zum Erhalt

«Zürich braucht innerstädtisch mehr Platz für Handwerk und Gewerbe. Die Werkstadt ist ein Pilotprojekt dafür. Aber welche Unternehmen leisten sich das? Wer muss stadtnah produzieren und welchen Mehrwert versprechen sie sich?» Hört man Sebastian Güttinger von Denkstatt sàrl zu wird klar, wie elementar diese Fragen für das Projekt waren. Noch bevor es Antworten darauf gab, ging man den ersten Schritt der Öffnung: In die Räumlichkeiten der bestehenden Gebäude zog ohne grossen baulichen Aufwand Pioniergewerbe mit längerfristiger Perspektive. «Der Bestand ermöglichte ihnen und uns Erfahrungen für ihre Bedürfnisse zu sammeln», sagt Güttinger. Diese halfen, die Umnutzung des Gebäudes Q zu konzipieren. Baubüro In Situ bereitete ab 2019 den Grundausbau der 115 auf 84 Meter grossen Halle für Unternehmen der urbanen Produktion vor; gleichzeitig sollte die ehemalige Werkstätte im Rahmen der gewerblichen Nutzung für Publikumsverkehr zugänglich werden. Man suchte also nicht nur einen Mieter, sondern mehrere, für die man den riesigen Raum unterteilte. Welche Art von Räumen diese Unternehmen benötigten, erfuhr das Team der Denkstatt aus Nutzerbefragungen: Welcher Flächenbedarf besteht, welche Räume teilt man sich? Auch die notwendigen Raumhöhen und -temperaturen, die Art der Anlieferung und Nutzlasten waren wichtige Kriterien.

«Die Nutzung als Produktionsstätte macht den Erhalt der Halle erst möglich», sagt Lukas Auf der Maur. Nur wenn bestehende Strukturen und Eigenschaften weiterverwendet werden können, lassen sich auch die baulichen Eingriffe minimieren. Für ihn bewahrheitete sich im Gebäude Q eine alte Denkmalpflege-Weisheit: Nutzungserhalt befördert den Substanzerhalt. Den Anspruch der Mietenden an Komfort und Ausbaugrad erlebte er dort als deutlich heruntergeschraubt. Das Mass der Nutzung ist mit dem Bestand kompatibel, denn darauf legte man in der Entwicklung Wert. Manch interessierte Unternehmen, wie etwa aus dem Food-Bereich mit erhöhten Hygieneanforderungen, sind deshalb heute in der Halle nicht vertreten. Zum Stufenkonzept des Masterplans gehört auch, dass mit der baulichen Weiterentwicklung eine gewerbliche Veränderung möglich ist. Erstnutzende sollen Kontinuität schaffen und mitwachsen können. Mit neuen Bedürfnissen entstehen aber auch neue Herausforderungen für den Bestand: Ein Seifenproduzent stellte seine Produktpalette um und benötigte für seine Mietfläche einen abwaschbaren Boden. Der in der Halle verlegte Holzklötzchenbelag aus der Bauzeit konnten die Anforderung nicht erfüllen, die Suche nach Lösungen und ein Abwägen von Interessen begann. Dies ist keine Seltenheit – trotz Schutzverordnung muss der Bestand verhandelt werden, stückweise, immer wieder – entschieden wird von Fall zu Fall. 

Alte und neue Raumlogik

Das Gebäude Q ist das Herzstück des Werkstadt-Areals. Die sechsschiffige Halle mit ihren gründerzeitlichen Backsteinfassaden besteht im Inneren aus einer Stahlskelettkonstruktion, Fachwerkträger spannen von Pfeiler zu Pfeiler. Zur Hohlstrasse schliesst sie mit einem zweigeschossigen Annex aus Sichtmauerwerk ab, der so lang ist, wie sie selbst. Wo früher Schreinerei und Polsterei einquartiert waren, werden heute Kaffeemaschinen hergestellt. Gleich neben dem Eingang hat eine Sattlerin ihre Lederwerkstatt eingerichtet. Über eine Mittelachse gelangt man ins Innere der Halle. Wie im Bauch einer Maschine werden hier dicke Leitungen offen geführt, Oberlichtaufsätze verteilen zenitales Licht gleichmässig im hohen Raum.

Leer und in ihrer ganzen Grösse muss sie ein imposanter Raum gewesen sein. Heute gliedern Holzwände, die bis unters Dach reichen, die Halle in vier Bereiche. Die Aufgabe war ein Einbau, weniger ein Umbau, sie sollte unterteilt und umgenutzt, doch gleichzeitig erhalten werden. Was wie ein Widerspruch klingt, löste das Baubüro In Situ mit zwei Massnahmen: Die neu eingezogenen Wände zwischen den Mietbereichen sind reversibel und greifen nicht in die primäre Tragstruktur ein. Ausserdem sollte die Halle in ihrer ganzen Dimension wahrnehmbar bleiben: Hohe Fenster ermöglichen Durchblicke von den allgemeinen Korridoren in die Miet- bereiche bis zur Fassade. Als Wegverbindung durch die Halle blieb die Mittelachse offen, und in Längsrichtung führt die Anlieferung durch die gesamte Halle. Auch wenn die Gleise noch im Boden liegen, ist es nicht mehr die Bahnlogik mit den Reparaturabläufen, die den Raum strukturiert. Die neue Raumeinteilung schafft in den Mietbereichen separate, teils zweigeschossige Einheiten, die man von der Mittelzone aus betritt. Dafür wurde aus wiederverwendeten Fahrleitungsmasten eine Sekundärkonstruktion erstellt und mit Holzbalkendecken ein Galeriegeschoss eingezogen. Die Mieterschaft baute ihre jeweiligen Gewerbeeinheiten in Eigenregie aus.

Für das Baubüro In Situ ist die Werkstadt ein Heimspiel: Auf dem Areal ansässig, ist sie ein Labor für seine Idee der Kreislaufwirtschaft. Die Denkmalpflege ist eine Partnerin, man fühlt sich verwandt, teilt die Begeisterung für den Bestand, das Bewahren, das Weiterentwickeln dessen, was da ist. Man weiss um Gemeinsamkeiten, aber auch um Unterschiede: «Wenn wir auf dem Areal Lampen ausbauen und woanders wieder montieren, ist das keine denkmalpflegerische Massnahme», sagt Roger Küng, Projektleiter für das Gebäude Q. Dennoch bleiben dadurch Elemente auf dem Areal erhalten, die zur Erzählung beitragen. Auch in der umgebauten Halle wurde mit wiederverwendeten Bauteilen aus dem Portfolio der SBB gearbeitet: Masten, Schienen und Kranbahnträger. Sie vermitteln beiläufig zwischen dem historischen Bestand und den Neubauelementen. 

Bewährt sich das Konzept?

Auf dem Areal der Werkstadt ist ein Beitrag zum Weiterbauen an einer vielfältigen Stadt gefragt. Die Behörden haben mit der Festlegung der Zone und der Schutzverordnung einer primär ökonomisch getriebenen Entwicklung den Riegel vorgeschoben – das öffentliche Interesse am Erhalt und der Durchmischung von Nutzungen gewichten sie hoch. Die SBB tragen den hier geforderten Weg mit, doch ist die Transformation längst nicht abgeschlossen: Nach den Pionierprojekten auf dem Areal, die den Bestand schonten, kommt der nächste Ausbauschritt. Längerfristig wird es verstärkt um Neubauprojekte gehen, die im Masterplan erst vage als Volumen definiert sind. Die zusätzliche Ausnützung ist hoch. Sie werden das Bild der Werkstadt verändern, auch wenn wichtige Eigenschaften des Aussenraums gewahrt bleiben: die Sichtachse der Längsverbindung und die Querbezüge auf das Gleisfeld, wo mit Schiebebühnen die Waggons verschoben wurden. Studio Vulkan legte mit einem «Katalog der Patina» für den Freiraum ein Grundlagendokument vor, das den atmosphärischen Wert benennt, den es zu erhalten gilt.

Themen der Kreislauffähigkeit und Wiederverwendung, die im Bestand eingeübt wurden, sollen auch künftige Projekte prägen; für den ersten neuen Gewerbebau an der Hohlstrasse wird gerade der Wettbewerb entschieden. Der geplante Neubau ersetzt die Stützliwösch; Sie ist angezählt – sie ist eins der «geheimen Denkmäler», die man kennt und mit Altstetten identifiziert, wo am Samstagnachmittag Autoposer ihre getunten Lieblinge einseifen. Sie ist ein Teil jenes Altstetten, das gerade verschwindet. Der Stadtteil verändert sich rasant, auch wenn in der Werkstadt vieles bleibt, wie es war.

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