Der Laubengang

Eine Wiedererwägung

Tanja Reimer, Philip Heckhausen (Bilder)

Keine Form der Wohnungserschliessung ist so umstritten wie der Laubengang. Trotz unzähliger sozial– und stadträumlich gescheiterter Projekte taucht er dennoch immer wieder auf – in letzter Zeit auffällig häufig. Worin liegt sein Potenzial?

Die Erschliessungsgalerie als Typus für die gestapelte Stadt: Im Steinfels Areal bildet sich eine Hausgemeinschaft über den Dächern des Quartiers. Überbauung Steinfels, Kaufmann van der Meer, 1993–96
Bild: Philip Heckhausen

1974 publizierte Martin Steinmann einen Text zum «Laubenganghaus»1 und legte dort einprägsam dar, wie die Typologie der aussenliegenden Korridorerschliessung seit dem 19. Jahrhundert zwischen einem «Klassenmerkmal» der Arbeiterschicht und einem Manifest für ein auferlegtes kollektives Zusammenleben schwankte. Eine ganze Generation Schweizer Architekten hat den Erschliessungstyp in den letzten zwei Jahrzehnten als stigmatisierte Lösung mehrheitlich ausgelassen; stattdessen hat die Grundrissforschung raffinierte Spännertypen hervorgebracht und sich den Raumbeziehungen innerhalb der Wohnung gewidmet.

Doch nun scheint der Laubengang durch steigenden Kostendruck bei gleichzeitig hoher Nachfrage nach Kleinwohnungen zurück. Realisierte Genossenschaftsprojekte wie die Stadterle von Buchner Bründler Architekten in Basel (vgl. wbw 6–2018) oder das CODHA-Hochhaus im Ecoquartier Jonction von Dreier Frenzel in Genf (vgl. wbw 3–2019) führen vor, wie attraktiv eine kollektiv genutzte aussenliegende Erschliessung für die Bewohnenden sein kann. Dabei umfasst das erneute Aufleben gemeinnützige Wohnkonzepte ebenso wie solche mit Renditeanspruch. Doch nicht alle Beispiele sind von gleicher Qualität.

Weiterentwicklung ohne Dogmen

Was lernen wir also aus der Geschichte, wenn wir den Laubengang wieder in Erwägung ziehen? Zwingen wir Menschen mit wenig Budget in effiziente Wohnmaschinen, ohne ihre Bedürfnisse zu reflektieren? Bauen wir Lärmschutzriegel mit vorgelagerten Galerien der Tristesse ohne Beziehung zur Stadt? Oder glorifizieren wir die Typologie allein als Zeichen einer kollektiven Wohnform für eine kontaktfreudige Nutzerschaft? Hoffentlich weder noch.

Um den Laubengang von seinem Stigma zu befreien, bedarf es eines historischen Bewusstseins ebenso wie der Unbefangenheit gegenüber den Dogmen vorheriger Generationen. Und es gelingt nur mit entwerferischer Sorgfalt an den Übergängen von Stadt, Nachbarschaft und Zuhause.

Die Architekturgeschichte hat Variationen von Laubenganghäusern hervorgebracht, die ganz unterschiedliche Chancen und Risiken für eine Neuinterpretation in sich tragen. Drei dieser Erscheinungsformen sollen hier anhand von Zürcher Beispielen aus den 1990er Jahren reflektiert werden. Eine Zeit der wiedererstarkten Genossenschaftsbewegung, die für ein enges Miteinander von Bauträgerschaften und Architekturbüros steht, die aber auch Spuren ausserhalb des Gemeinnützigen hinterlassen hat. Sie hat Bauten hervorgebracht, die typologische Experimentierfreude beweisen und gleichzeitig Fragen des Zusammenlebens in den Entwurf einbinden. Sind sie für uns nach dreissig Jahren schon wieder «wegweisend»?2

Raum der Gemeinschaft: Fête des enfants 1909 im Atrium des Familistère in Guise. Bild: Archiv Familistère de Guise

Der nach innen gerichtete Erschliessungsbalkon

Mit der Betonung des Gemeinschaftlichen im Wohnungsbau und dem Anspruch an Kompaktheit taucht ein Typus wieder auf, den wir aus dem Familistère in Guise (Jean-Baptiste André Godin, 1859–80) kennen: der Erschliessungsbalkon am Atrium. Die Ausrichtung nach innen bezieht sich dabei nicht allein auf das Gebäudevolumen, sondern auch auf die Gemeinschaft der Hausbewohnenden. Im Familistère sollte man sich auf den Innengängen zu Festen und Versammlungen treffen. Die Mitte als Bezugspunkt und Projektionsraum sowie der Blick zueinander hatten eine politische Dimension. In Zürich kennt man den Typus aus dem «Amerikanerhaus» in Wiedikon (vgl. wbw 11–2017). Neuerdings blicken auch die Kleinwohnungen im Kopfbau des Zollhauses (Enzmann Fischer 2021) von umlaufenden Gängen auf den Erschliessungshof der Hallenwohnungen und partizipieren so an diesem vielbeachteten Wohnexperiment. Im Krokodil in Winterthur (ARGE Kilga Popp und Baumberger Stegmeier 2020) besetzen lichtdurchflutete, bepflanzte Erschliessungsbalkone in Atrien die tiefen Seitenflügel des grossen Wohnblocks. Die farbige Stahlstruktur zeigt Anklänge an die Cité Napoleon von Marie-Gabriel Veugny in Paris (1849–51), greift aber auch die Industriegeschichte des Ortes auf. Grosse Fenster gewähren Einblicke in die privaten Sphären – und dies scheint akzeptiert: Die Vorhänge sind mehrheitlich offen.

In der Überbauung Kappeli (2000) reihen sich die Wohnungen am «nach innen gerichteten Erschliessungsbalkon» –, einer Strasse mit Treppenkaskaden.
Bild: Philip Heckhausen

Interessant ist, dass dieser Erschliessungstyp in veränderter Form auch in Bauten institutioneller Anleger vorkam: In der Wohnüberbauung Kappeli von Theo Hotz in Altstetten (2000)  wenden sich die Wohnungen nicht zueinander, sondern reihen sich an einer inneren Strasse mit beeindruckenden Erschliessungskaskaden. Die metallische Fassade mit gewellten Alublechen und Rafflamellen sowie die Glasbausteine in den Stufen spielen mit dem Licht, das von oben durch ein gläsernes Dach fällt, aber vermeiden jeden Moment der Wohnlichkeit. Der Boden trägt die Atmosphäre der Strasse ins Haus hinein, so dass auch Velos wie selbstverständlich an den Geländern lehnen. Es resultiert ein ungewöhnlicher Raum von kräftiger Ausstrahlung. Jedoch: Die Rafflamellen sind mehrheitlich geschlossen. Welchen Nutzen bieten diese Räume zur Aneignung? Entsteht Gemeinschaft auch entlang eines langen Gangs ohne kollektive Mitte? Eine erste Erkenntnis scheint wesentlich: die feuerpolizeilichen und betrieblichen Auflagen, die Raumakustik sowie Anzahl, Wohnform und Orientierung der an den Laubengang anschliessenden Einheiten bestimmen ganz wesentlich, ob der Typus «nur» einen imposanten Raum oder ebenso einen nachbarschaftsfördernden Ort bereithält.

Privater Blick auf das «Haus als Weg»: Küche am Laubengang im Brahmshof Zürich (1991), der zugleich als Wohnungsbalkon dient.
Bild: Philip Heckhausen

Das Haus als Weg

Der Brahmshof von Kuhn Fischer Hungerbühler (1991), zeigt einen ganz anderen Typ des Laubenganghauses. Hier liegt die Erschliessung nicht in einem Innenraum, sondern an dem mit einer malerischen Linde bestandenen Hof. Über eine vorgelagerte offene Stahlstruktur gelangen die Bewohnenden auf einem kontinuierlichen Weg von der Strasse zur Wohnung. Zum Laubengang orientieren sich Essküchen mit raumhohen Fenstern. Doch der durchgesteckte Wohn-/Essraum öffnet sich mit einem privaten Balkon gleichzeitig auch zur Stadt. Die Stege des Laubengangs verlaufen entlang der Wohnungen, geben Blicke frei und halten doch respektvoll Abstand. Hier und da führen breite Treppen wie Landungsbrücken aufs nächste Geschoss. Unterschiedliche Bewegungsmuster – direktes Entschwinden, Schlendern, Rennen, Spiel – scheinen in dieser Struktur möglich. Jede Wohnung hat einen eigenen Vorbereich. Durch die Geländer hindurch überblicken auch Kinder die vertikale Nachbarschaft und das sich gegenseitige Sehen bildet die Voraussetzung für ein Kennenlernen. Man finde schnell Anschluss, wird geschildert. Während der Hof durch seine geringe Dimension, die Gestaltung und spärliche öffentliche Erdgeschossnutzung von Beginn an Kritik ausgesetzt war,3 scheint die vertikale Nachbarschaft auf den Laubengängen blendend zu funktionieren.

Interessant ist, dass der Brahmshof bei seiner Erstellung verhältnismässig hohe Baukosten aufgewiesen hat und die Mietpreise dadurch bis heute tendenziell höher sind als in gleich alten gemeinnützigen Bauprojekten. Wie viel von der räumlichen und nachbarschaftlichen Qualität im Hof machen aber genau die grosszügigen Laubengänge und die Stahltreppen mit Anklängen an Herman Hertzbergers Bauten aus? Leider herrscht allzu oft der Irrglaube, ein Laubengang sei a priori eine günstige Lösung. Mit der für eine Aneignung als Aufenthalts- und Begegnungsort notwendigen Breite,4 einer sorgfältigen Gestaltung der Schwellen, einer Begrenzung auf kleine Nachbarschaften sowie mit dem Anspruch an den urbanen architektonischen Ausdruck schrumpft das Einsparpotenzial gegenüber einer Spännerlösung schnell dahin. Vielleicht braucht der Laubengang genau diese Befreiung vom Image der Effizienzmaschine, um unerwartete sowie sozialräumlich attraktive Formen hervorzubringen.

Limmatwest: Wohngassen und Laubengänge bilden ein Wegnetz abseits der öffentlichen Strasse.
Bild: Philip Heckhausen

Wenn nun die Idee der Wohnstrasse auf dem Geschoss zwar situativ gut funktionieren mag, jedoch immer ins Innere des Gebäudes oder in einen Siedlungsraum verlagert wird, wie es auch im Ensemble Spangen von Michiel Brinkman in Rotterdam in den frühen 1920er Jahren der Fall war, welche Beziehung besteht dann noch zur Stadt? Eindrücklich zeigt sich das Phänomen am Limmatwest (1997–2002), das die Architekten des Brahmshofs für einen privatwirtschaftlichen Bauträger an einer städtischen Ausfallachse realisiert haben: Abgewendet von der Strasse entsteht ein Haus als kleines Quartier, in dem der Laubengang nur eine Episode des Weges ist. Ein Spaziergang durch die Wohngasse im Inneren der Anlage eröffnet Einblicke in die vielfältigen Lebensräume. Gewerbenutzungen und Wohnungen stehen sich wie selbstverständlich gegenüber. In regelmässig komponierten Abständen wird der Blick auf das Limmatufer inszeniert, das die riesige Wohnmaschine und den entsprechend langen Laubengang im vierten Geschoss in einem landschaftlichen Kontext verortet. Entlang der Hardturmstrasse zeigt sich jedoch ein abweisendes Gesicht. Funktioniert die kollektive Nachbarschaft am Laubengang also nur stadtabgewandt?

«Kollektive Stadtloggia» an der Hellmutstrasse in Zürich (1991). Der Laubengang verbindet je drei Wohnungen. Hier trifft man sich auf einen Gruss oder zum Essen.
Bild: Philip Heckhausen

Die kollektive Stadtloggia

Wäre da nicht der Brandschutz, liessen sich Laubengänge auch als wohnliche Vorzonen und Aufenthaltsräume gestalten, durch die man gehen und einzelne Einheiten erschliessen kann. Die Wohnüberbauung Hellmutstrasse in Zürich (A.D.P., 1991) (vgl. wbw 5–1989), zeigt exemplarisch die Doppelfunktion des Erschliessungsraums als Balkon. Kleine Nachbarschaften gruppieren sich geschossweise um eine U-förmige Laube, auf der man ankommt und am Abend auch gemeinsam isst. Das bewusste Schichten zwischen Gemeinschaft und geschützter Privatheit, das die Häuser auszeichnet, zeigt sich bis in die Konstruktion und Oberflächen der Innenräume. Kollektive und private Freiräume erleichtern die Akzeptanz des Laubengangs bei grosser nachbarschaftlicher Nähe. Zwischen dem Innen und Aussen vermittelt allein die Tür – einmal als Eingang und daneben als zweiflüglige Balkontür. «Es ist dem Menschen im Tiefsten wesentlich, dass er sich selbst eine Begrenzung setze, aber mit Freiheit, d.h. so, dass er diese Begrenzung auch wieder aufheben, sich ausserhalb ihrer stellen kann.», schreibt Georg Simmel in Brücke und Tür.5

Das Laubenganghaus der Wohn- und Gewerbesiedlung Guggach in Zürich (Donet Schäfer Reimer, in Planung, vgl. wbw 10–2018) geht noch einen Schritt weiter: Lässt sich die kollektive Stadtloggia auch mit mehr Geschossen als Geste zum öffentlichen Raum umsetzen? Der Anspruch an eine überschaubare Nachbarschaft sowie das Angebot von Rückzug bei exponiertem Wohnraum werden mit mehr Höhe und urbanem Kontext umso wichtiger. Eine Stadtloggia muss zudem von Ausblick und Sonne profitieren, sonst hält man sich hier kaum auf. Grosse Natursteinstützen und nichtbrennbare, geflieste Podeste besetzen daher die Galerien der Sonnenseite und bleiben gleichzeitig interpretationsoffen zur Aneignung. Gelingen auf diese Weise sowohl die Schwellenräume in die Wohnung als auch ein kraftvoller Ausdruck zur Stadt?

Die Hinwendung der vertikalen Hausgemeinschaft zum öffentlichen Raum bietet jedenfalls Chancen für einen neuartigen Typ des Laubenganghauses. Die bauliche Verdichtung als Antrieb typologischer Innovation verlangt nach mehr als «nur» Grundrissstudien im Wohnungsbau.

Brandschutz als Knacknuss

Der Brandschutz bleibt ein Thema für die Weiterentwicklung des Laubengangs. Die feuerpolizeiliche Grauzone wird in den Kantonen höchst unterschiedlich gehandhabt. Der Weg für projektspezifische Brandschutzkonzepte ist jedoch durch die Überarbeitung der Brandschutznorm 2017 grundsätzlich geebnet. Mit einem nachvollziehbaren Betriebskonzept und Auflagen an die Bauteile müsste es möglich sein, einen Fluchtweg freizuhalten, ohne dabei gänzlich auf die Möblierung daran angrenzender Zonen zu verzichten. Gleichzeitig kann das Ringen mit den geltenden Regeln auch zu neuen Lösungen führen. Die terrassierte Wohn- und Gewerbezeile am Bahnhof Töss in Winterthur besitzt private Aussenbereiche ohne Abgrenzung und Überdeckung entlang des Laubengangs. Die Terrassierung bietet hier zudem noch einen baurechtlichen Clou: Das zurückgestaffelte Volumen nutzt die maximale Baumassenziffer vollumfänglich aus und lässt die Erschliessung als abwechslungsreichen Weg geschossweise offen auf den Rücksprüngen um das Haus herum verlaufen, ohne dass sie der Ausnützung angerechnet werden muss. Wenn aus dem Ringen mit Baurecht und Kostendruck Gebäudetypen entspringen, die dank entwerferischer Experimentierfreude und strategischer Gewieftheit spezifische Qualitäten besitzen, kann der Laubengang Bestandteil einer starken stadt- und sozialräumlich wirksamen Architektur sein.

Tanja Reimer (1981) ist Partnerin bei Donet Schäfer Reimer Architekten in Zürich und schreibt regelmässig für Schweizer Fachpublikationen. Sie studierte Architektur an der TU Darmstadt und der ETH Zürich, 2014–19 forschte sie am Institut für Konstruktives Entwerfen IKE der ZHAW in Winterthur.

Philip Heckhausen (1979) ist selbstständiger Architekturfotograf. Er studierte Architektur an der Universität der Künste Berlin, arbeitete als Architekt in Berlin, Basel, Paris und Zürich und war als Assistent am Departement Architektur der ETH Zürich in der Lehre tätig.

1 Martin Steinmann, «Das Laubenganghaus», in: archithese 12/1974, S. 3 – 12.
2 vgl. Christian Caduff und Jean-Pierre Kuster (Hg.), Wegweisend Wohnen. Gemeinnütziger Wohnungsbau im Kanton Zürich an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Zürich 2000
3 «Brahmshof, Zürich Architekten Kuhn, Fischer, Hungerbühler», in: werk bauen + wohnen, 3–1992, S. 13–15
4 Auch hinsichtlich des Lärmschutzes besteht neuerdings ein Tool, das die maximale Tiefe des Laubengangs vorgibt, damit er zum Lüften lärmempfindlicher Räume genutzt werden kann. In Abhängigkeit davon, ob er auch als Aussenraum genutzt wird, welche Räume und wieviele Parteien anschliessen, muss der Laubengang demnach eine Tiefe zwischen 1.70 m und 3.20 m aufweisen. Siehe hierzu: www.bauen-im-laerm.ch/berechnungswerkzeuge/laubengang/
5 Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957

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