Artikel aus wbw 7/8 – 2023

Dachgemüse

Gewächshaus auf einer Industriehalle im belgischen Roeselare

Jenny Keller

Innenverdichtung kann auch durch ein Hightech-Gewächshaus als Aufstockung in der Industriezone erreicht werden. Dabei haben Meta und van Bergen Kolpa Architecten urbane Landwirtschaft mit auffälliger Architektur gekreuzt.

In diesem urbanen Garten macht man sich die Hände nicht mehr schmutzig. Die Pflanzen, das Obst, das Gemüse und die Kräuter werden in Hydrokultur angebaut, ihre Produktion beansprucht keine Erde, keine grüne Wiese, kein Land – sondern das ungenutzte Dach einer bestehenden Industriehalle. Der transparente und auffällige Aufbau befindet sich auf einem Auktionshaus für Früchte und Gemüse in der Industriezone von Roeselare in Belgien. Richtig gelesen: ein Auktionshaus. Hier werden seit den 1940er Jahren Obst und Gemüse versteigert, 200 Millionen Kilo im Jahr – wir Städter machen uns oft ein zu romantisches Bild von Landwirtschaft.

AGROTOPIA prangt in Versalien auf neun Giebeln des gläsernen Gewächshausdachs. Auftraggeber sind die Eigentümerin der Halle, die Genossenschaft REO Veiling, und das flämische Forschungsinstitut für Landwirtschaft und Gartenbau. Entworfen haben es die Architekten von Meta mit van Bergen Kolpa. Agrotopia ist ein Pilotprojekt, das der Forschung dient und dies nach aussen auch zur Schau trägt.

Produktive Landschaft

Ein fünfjähriges, von der flämischen Regierung und dem Vlaams Bouwmeester initiiertes Programm hatte zum Ziel, mit neuen Konzepten die gesellschaftlichen Herausforderungen im ländlichen Raum anzugehen, im Dreieck der Zielkonflikte: Landwirtschaftsfläche, Naherholungsgebiet und Siedlungsraum. Landwirte, Architektur- und Planungsbüros waren aufgefordert, sich der «produktiven Landwirtschaft» anzunehmen, ein Begriff, geprägt von André Viljoen, Professor für Architektur und Städtebau an der Universität in Brighton.1 Das Ziel dabei: Die urbanen Freiräume sollen durch die produktive Landwirtschaft sowohl ökologisch und wirtschaftlich als auch gesellschaftlich etwas abwerfen; dafür soll die Landwirtschaft besser in die Stadtplanung integriert werden.

Im landwirtschaftlich geprägten Flandern sollen sich Landwirtschaft und Raumplanung künftig gegenseitig befruchten, erklärt die Koordinatorin des Programms, Elke Vanempten. Weil das Agrotopia-Konzept mehrere übergeordnete Themen des Programms adressierte – die Nutzung des knappen Raums, die Kombination von städtischen und ländlichen Akteuren, innovative Überlegungen zur Nutzung von Wasser, Energie und der Kreislaufwirtschaft –, wurde es als eines von fünf Wettbewerbsprojekten für die Umsetzung ausgewählt. Auch sonst ist dieser Prototyp multifaktorieller Natur: Die Forschungseinrichtung für den Anbau von Obst und Blattgemüse auf 9 500 Quadratmetern ist auch ein pädagogischer Garten und informiert die interessierte Öffentlichkeit auf einem Lehrpfad über die Forschungseinrichtung. Die Lage von Agrotopia und dem Auktionshaus darunter direkt an der vierspurigen Ringstrasse erzählt ausserdem von den vielen Kilometern, die Obst und Gemüse zurücklegen, bevor das Essen auf unseren Tellern landet.

Geschlossener Kreislauf

Die Stapelung der Nutzung im Grossen spiegelt sich auch im Kleinen wider: Im kürzeren Winkelarm ist das Gewächshaus von doppelter Höhe. Hier wird vertical Farming erprobt, das heisst: Pflanzen vertikal gestapelt, um den begrenzten Raum effizienter auszunutzen. Dabei kommen in der Regel Hydroponik- oder Aeroponik-Systeme zum Einsatz, bei denen Pflanzen in einem nährstoffreichen Wassermedium oder in der Luft mit Nährstoffen versorgt werden. Zusätzlich werden für optimale Wachstumsbedingungen oft künstliche Beleuchtung, Temperatur- und Feuchtigkeitskontrollen eingesetzt.Vertical Farming ermöglicht den Anbau von Pflanzen unabhängig von geografischen oder klimatischen Bedingungen in ganzjähriger Produktion. Die hochkontrollierte Umgebung reduziert oder eliminiert ausserdem den Einsatz von Herbiziden und Pestiziden. Zudem ermöglicht sie eine effizientere Nutzung von Ressourcen wie Wasser und Energie, da der Anbau in geschlossenen Systemen stattfindet.

Diese Methode hat das Potenzial, die Lebensmittelproduktion in städtischen Gebieten zu revolutionieren – als mögliche Antwort auf die Herausforderungen des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums. Forschung und Entwicklung für die Verbesserung der Technologie und die Erhöhung der Skalierbarkeit sind vielerorts im Gange. Gerade auf Erdteilen mit wenig Wasser oder fruchtbaren Böden ist die Indoor-Landwirtschaft eine Option: Das grösste Gewächshaus steht am Rande der Wüste in Dubai – allerdings ohne architektonisch-städtebaulichen Mehrwert.2

Eine zentrale Aufgabe des Projekts Agrotopia in Belgien ist die Öffentlichkeitsarbeit. Mit der breiten Kaskadentreppe signalisiert die Eingangsfassade eben diese Publikumsnähe, den Austausch zwischen Konsumentinnen und Landwirten. Der Lehrpfad beginnt oben an der Treppe, die zum Platz der städtischen Gärtnerei führt, wo sich die Besuchereinrichtungen befinden. An dieser Stelle kragt das Dach aus und ruht auf Pfeilern. Unter dem überhohen Glasaufbau an der Ringstrasse befinden sich fünf fette runde Stümpfe wie Elefantenbeine, die nicht aus statischen Gründen derart dimensioniert sind, sondern weil sie das Regenwasser speichern, das sich auf dem Dach ansammelt. Aus diesen Behältern werden die Pflanzen im Gewächshaus bewässert.

Utopie oder reale Alternative?

Agrotopia ist ein Pilotprojekt, unterstützt vom Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung der flämischen Regierung. Es muss sich nicht auf dem realen Markt behaupten – und es ist teuer und technisch komplexer als der Bau eines Gewächshauses direkt am Boden, konstatiert die Koordinatorin des Pilotprogramms des ILVO Flandern.3 Agrotopia wurde im vergangenen Jahr vielfach für Preise nominiert und gewann auch den Award des World Architecture Festival (WAF) in der Kategorie Energy and Recycling, denn wenn die Sonne nicht stark genug wärmt, heizt die Abwärme der Müllverbrennungsanlage. Ein Box-in-Box-System schafft vier verschiedene Klimazonen, sodass verschiedene Pflanzenarten gleichzeitig gezogen werden können, und eine angenehme Temperatur in den Büroräumen der Forschenden herrscht.

Die Idee, die Verdichtung mit der Landwirtschaft und Architektur zu kreuzen, ist bestechend. Ein Crystal Palace auf einer fensterlosen Box in der Industriezone hat durchaus einen ästhetischen Mehrwert und Strahlkraft. Der Crystal Palace, den Joseph Paxton 1851 für die Weltausstellung in London gezeichnet hatte, war das Symbol für die industrielle Revolution. Heute symbolisiert das (zugegeben viel) kleinere Geschwister in Roeselare den notwendigen Wandel im Umgang mit Nahrungsketten und Lieferlogistik. Und was passiert in der Schweiz? Genossenschaften gehen voran und haben ihren Wohnbauten zeichenhafte Gewächshäuser aufgesattelt.

Auf dem Lysbüchel-Areal in Basel (vgl. wbw 9 – 2022, S. 22 – 31) erhält das letzte der Häuser, das zuletzt fertiggestellte, freistehende Gebäude der Genossenschaft Lyse-Lotte, ein Dachgewächshaus (Arbeitsgemeinschaft Marco Merz, Marion Clauss und Martina Kausch). Im April 2023 sind die Bewohnenden eingezogen und pflanzen dort nun lokales Gemüse an.


Einer neu gebauten Gewächshausruine begegnet man auch in Dübendorf, dort steht anstelle einer Gärtnerei eine Siedlung der Wohngenossenschaft Wogeno (Conen Sigl 2023), die mit ihrer Gewächshausstruktur auf dem Dach die Erinnerung an die ehemalige Nutzung auf dem Grundstück in die Gegenwart tragen soll.4

Ist das Gewächshaus also mehr als prototypisch und vielleicht sogar im Trend? Es schickt das Bild der Natur in die Stadt und formt als Abschluss des Hauses eine Dachform, die jedes Kind deuten kann, eine Dachform, die Sinn ergibt. Das Low-tech-Dachgewächshaus auf dem Wohnhaus und die Hightech-Version auf dem industriellen Gebäude könnten also durchaus eine architektonische Strategie sein, wenn Verdichtung und Landwirtschaft gekreuzt werden sollen.

Fehlende Architektur

Doch Hors-Sol-Farmen brauchen nicht zwingend ein Gewächshaus. Die Pflanzen kommen auch mit Kunstlicht zurecht, was eine Möglichkeit darstellt, wie stillgelegte Fabriken oder Industriehallen wiederbelebt werden können. Das beweist in der Schweiz das ETH-Spin-Off Yasai und pflanzt im Industriegebiet in Niederhasli, neben dem Flughafen Kloten, erfolgreich Kräuter wie Basilikum auf sechs Ebenen an. Durch die Nähe zur Stadt Zürich verkürzen sich Transportwege beim gleichzeitigen Verdichten der Landwirtschaft.5 Den Industriehallen sieht man ihre Indoor-Plantagen nicht an – deshalb fliegt dann und wann auch eine Produktionsstätte von illegalen Pflanzen auf. Ein gläsernes Gewächshaus macht mehr Werbung in eigener Sache.

Der Bund Schweizer Landschaftsarchitektinnen und -architekten BSLA bleibt aber auf dem Boden und hat in einem Positionspapier Strategien niedergeschrieben, wie mit einer urbanen Lebensmittelproduktion die Lebensqualität in den Städten verbessert werden kann.6 Die Massnahmen (die Identität von Orten steigern, Synergien in der Stadt schaffen, ökologischen Nutzen gewährleisten, städtischen Wandel bewerkstelligen, Landschaften für das Wohlbefinden entwickeln) werden dabei mit etwas konkreteren Handlungsanleitungen angereichert. Viel mehr als Bewusstseinsschärfung ist nicht herauszulesen. Vielleicht braucht es auch hier den einen oder anderen Crystal Palace im Industriegebiet, um das notwendige Umdenken zu visualisieren.

1 Andre Howe, Joe Viljoen, Continuous Productive Urban Landscapes, Designing Urban Agriculture for Sustainable Cities, London 2016.

2 Samuel Herzog, «Das Gewächshaus der Zukunft? In Dubai steht die grösste Hors-sol-Farm der Welt», in: NZZ 16.2.2023, vgl. www.nzz.ch (abgerufen am 24.5.2023).

3 Pilootprojecten Productief Landschap, ILVO (Hg.), Merelbeke 2018.

4 Eine weitere Analogie zu Belgien fällt beim Betrachten der Wettbewerbsbilder auf (vgl. wbw 11– 2017, S. 49 – 51): BELLO sollte in Versalien als Kunst-und-Bau-Intervention die Architektur von der Investorenbautätigkeit der Umgebung auszeichnen, bisher konnte es aufgrund von Einsprachen noch nicht realisiert werden.

5 Andres Herzog, «Vertikal wachsen – Mark Essam Zahran», in: Anthos No. 3, Essen, Zürich 2023, S. 48 – 51.

6 Craig Verzone und Christina Woods, erarbeitet im Auftrag des BSLA, BSLA- Standpunkt Nahrung – für eine fruchtbare Stadt, 2023.

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